Vor einigen Tagen hat sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Klimaschutzgesetz von 2019 beschäftigt. Es hat die Frage geprüft, ob dieses Gesetz mit der Verfassung zu vereinbaren ist. Genau das ist die Aufgabe des Verfassungsgerichts: Es kontrolliert, ob sich die staatlichen Institutionen bei ihrem Handeln an das Grundgesetz halten. Allerdings sind die Richter in Karlsruhe einen Schritt weiter gegangen. Sie haben konkrete Inhalte einer Klimapolitik skizziert, die sich – nach ihrer Auslegung – direkt aus der Verfassung ableiten lassen. Und sie haben dem Gesetzgeber aufgegeben, ein neues Gesetz mit diesen Inhalten zu erarbeiten – mit Fristsetzung bis zum 31. Dezember 2022. Darf Karlsruhe das überhaupt? Haben die Richter damit nicht die Grenze zwischen Rechtsprechung und Politik überschritten?
Das Klimaschutzgesetz
Der Deutsche Bundestag hat im Dezember 2019 das Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) beschlossen. Der Zweck des Gesetzes ist zu gewährleisten, dass Deutschland die nationalen Klimaschutzziele einhalten wird. Dazu formuliert das KSG ganz konkrete Minderungsquoten für alle Treibhausgasemissionen. Insgesamt zielt die Politik darauf, die Emissionen bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent zu verringern. Damit will Deutschland seinen Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen vom Dezember 2015 nachkommen. Gegen dieses Gesetz haben zahlreiche Bürger und Umweltverbände Verfassungsbeschwerden eingelegt. Unter ihnen sind viele jugendliche Kläger und eine prominente Aktivistin der „Fridays for Future“-Bewegung. Ihnen gehen die festgeschriebenen Klimaziele nicht weit genug. Sie fühlen sich durch das Gesetz in ihren „Grundrechten auf Zukunft“ verletzt.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem Grundgesetz eine Verpflichtung des Staates zum Klimaschutz ab. Deshalb hat der Staat die Aufgabe, für eine Reduzierung der klimaschädlichen Treibhausgasemissionen zu sorgen. Klimaneutralität muss das Ziel seiner Umweltpolitik sein. Diese Aufgabe erfüllt der Staat zwar grundsätzlich durch das KSG. Allerdings sind die Reduktionsziele für die Zeit bis 2030 nach Ansicht der Richter zu niedrig. Die Folge, die das Gericht befürchtet: Ab 2030 müssen CO2-Emissionen so radikal reduziert werden, dass für andere politische Ziele und Grundfreiheiten kein Raum mehr sein wird. Wie kommt das Gericht zu dieser Einschätzung?
Die Richter in Karlsruhe gehen davon aus, dass auch nach 2030 noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden sein werden. Mit anderen Worten: Egal, was der Mensch im Alltag macht, es wird zur Emission von Treibhausgasen führen. Wenn dann ab 2030 radikal eingespart werden muss, ist kaum noch eine menschliche Aktivität möglich. Denn jede menschliche Aktivität bedeutet ja, dass CO2 freigesetzt wird. Dann müssen grundrechtliche Freiheiten in weitem Umfang eingeschränkt werden, um CO2 zu reduzieren. Pointiert zusammengefasst: Weil wir heute zu wenig CO2 einsparen, müssen wir ab 2030 umso radikaler reduzieren – und Grundrechte radikal einschränken. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Weil wir jetzt zu viel Kohle, Öl und Benzin verbrennen, dürfen die nachfolgenden Generationen umso weniger fossile Energie verbrauchen. Das macht – verfassungsrechtlich gesprochen – eine Einschränkung ihrer Grundrechte zwingend notwendig. Deshalb sei das Gesetz schon jetzt wegen Bedrohung der Grundrechte verfassungswidrig. Ist das weit vorausschauender kluger Grundrechtsschutz? Oder eine anmaßende Einmischung in die Klimapolitik auf der Grundlage einer seltsamen Prognose?
Ein problematischer Blick in die Zukunft
Die Verfassungsrichter blicken weit in die Zukunft und stützen ihre Entscheidung auf eine gewagte Prognose. Auch in der Zukunft wird alles, was der Mensch tut, mit der Emission von Treibhausgasen verbunden sein. Aber ist denn diese Prämisse der Entscheidung überhaupt richtig? Ist es denn sicher, dass wir auch nach 2030 noch in einer CO2-Welt leben? Erleben wir denn nicht gerade den Anfang vom Ende des Carbon-Zeitalters? Die Energie-Wende ist auf dem Weg. Der Ausstieg aus der Kohle ist inzwischen beschlossen und eingeleitet. Nicht nur in der Automobilwirtschaft erleben wir gerade den Ausstieg aus der CO2-Wirtschaft. Man muss noch nicht von einem Denkfehler sprechen, aber: Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die Prognose der Richter einfach falsch. Wegen des Strukturwandels wird der CO2-Verbrauch ab 2030 deutlich niedriger liegen. Das hat auch eine rechtliche Auswirkung. Die erheblichen Grundrechtseingriffe, die Karlsruhe für die Zeit ab 2030 befürchtet, werden nicht stattfinden. Damit verliert aber die Argumentation der Richter an Überzeugungskraft.
Noch Rechtsprechung oder schon Politik?
In ihrem Beschluss gehen die Richter sehr weit. Sie verpflichten das Parlament, wesentliche Teile des Gesetzes neu zu schreiben – und zwar bis zum 31. Dezember 2022. Damit nicht genug: Der Bundestag muss dabei die Argumentation des Verfassungsgerichts berücksichtigen und in konkrete Emissionsminderungswerte umsetzen. Damit greift Karlsruhe sehr konkret inhaltlich in die deutsche Klimaschutzpolitik der nächsten Jahrzehnte ein. Damit überschreiten die Richter die Grenze zwischen Rechtsprechung und Politik.
Auch wenn das Verfassungsgericht kein Gericht wie jedes andere ist: Es ist ein Gericht, dessen Aufgabe die Rechtsprechung ist. Aus der konkreten Politik muss es sich heraushalten. Auch das steht in der Verfassung. Deutschland ist ein Rechtsstaat, der vom Grundsatz der Gewaltenteilung geprägt ist. Der Staat ist keine Einheit. Die staatlichen Aufgaben sind auf unterschiedliche Institutionen verteilt. Die Parlamente – die Legislative – machen die Gesetze und Regeln. Regierung und Behörden – die Exekutive – setzen die Regeln um und führen die Gesetze aus. Last, but not least: Die Gerichte – die Judikative – kontrollieren, ob die anderen Staatsgewalten sich an das Recht und die Verfassung halten. Vor diesem Hintergrund kann man das Urteil des Verfassungsgerichts mit Fug und Recht für einen Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung halten. Welche Folgen hat es, wenn das Verfassungsgericht selbst die Verfassung verletzt?
Wer kontrolliert die Kontrolleure?
Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert die staatlichen Akteure. Es beurteilt, ob die Machtausübung in Deutschland den Maßstäben des Grundgesetzes genügt. Dadurch übt das Gericht in Karlsruhe selbst Macht aus. Wer kontrolliert das Verfassungsgericht?
Die Verfassung sieht kein Kontrollorgan für die Verfassungsrichter vor. Nach dem Willen des Grundgesetzes ist das Bundesverfassungsgericht die letzte Instanz. Es gibt niemanden, der seine Urteile aufheben könnte. Das war eine bewusste Entscheidung der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Sie wollten ein völlig unabhängiges Gericht, das die Verfassung durchsetzt, auch und gerade gegenüber der Politik.
Aber trotzdem stößt auch das Verfassungsgericht an Grenzen. Es kann seine Urteile nicht mit (staatlicher) Gewalt durchsetzen. Es gibt keinen Gerichtsvollzieher, der im Notfall die Entscheidungen vollstreckt. Deshalb ist Karlsruhe darauf angewiesen, dass alle staatlichen Organe freiwillig und vollständig seine Entscheidungen beachten. Das passiert aber nur, wenn das Gericht eine ungebrochene Autorität hat und seine Entscheidungen inhaltlich vollständig überzeugen. Wenn Karlsruhe Entscheidungen trifft, die nicht überzeugen und politischen Widerstand provozieren, wird es gefährlich. Denn dann riskieren die Richter ihre Autorität und die Wirkung ihrer Rechtsprechung. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung zum Klimaschutz-Gesetz ein Risiko für das Gericht.
Autor Volker Boehme-Neßler ist seit 2014 Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikationsrecht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er ist seit kurzem festes Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der WSH Deutsche Vermögenstreuhand GmbH. Das Family Office informiert seine Mandanten unter anderem auch zu gesellschaftspolitischen Themen. Zunächst stand der Text ausschließlich Mandantenfamilien der WSH zur Verfügung. Wir veröffentlichen ihn in einer gekürzten Fassung.