Wer die Finanzmärkte verstehen will, muss politisch denken

Zu Beginn des Jahres waren die sehr optimistischen Weltwirtschaftsvisionen die Treiber für massive Zinserhöhungs- und damit Aktienängste. Aber müssten – wenn man dieser Logik folgt – die jetzt etwas weniger üppigen Konjunkturambitionen umgekehrt nicht auch ein wirksames Mittel gegen zinsangstbedingte Aktiendepressionen sein? Und wenn der IWF nach 2020 eine Abschwächung der Weltwirtschaft prognostiziert und die EZB gleichzeitig ihr Inflationsziel von zwei Prozent bis dahin als nicht erreichbar ansieht, geht der Kelch harter Zinserhöhungen an uns vorüber. Davon abgesehen, mit der Digitalisierung steht der nächste Inflationskiller schon bereit.

Überhaupt, das reibungsfreie Management der weltweiten Überschuldung ist auch zukünftig ohne ordentlich freizügige Geldpolitik so wenig möglich wie die menschliche Besiedlung des Mars. Sollten die Notenbanken ihre psychologische Lufthoheit über die Finanz-Stammtische verlieren, kann aus einer unruhigen Schulden-Mücke schnell ein systemgefährdender Elefant werden. Unser mühsam wiederaufgebautes Weltfinanzsystem würde dann so baufällig wie ein vom Holzwurm befallenes Gartenhäuschen. Und dann fällt auch der Konjunktur das Gesetz des Hühnerstalls auf die Füße: Wenn Hühner keine Ruhe finden, legen sie keine Eier. Vor diesem Hintergrund hat die medial so heiß gekochte Zinsangst als Menetekel für einen bevorstehenden Aktienuntergang nicht mehr Substanz als eine Rindfleischbrühe aus der Tüte.

Kriegsangst, Zollangst und Zinsangst sind wenig angsteinflößend

Nach der jahresanfänglichen Konsolidierung sind die Aktienmärkte mittlerweile ähnlich krisenantihaftbeschichtet wie Teflon-Pfannen. Die Anleger sind offensichtlich immer mehr bereit, zwischen den blutüberströmten Nachrichtenzeilen zu lesen und vor allem politisch zu denken. Sie wissen, dass Politiker wie Trump, Putin, Merkel oder Draghi keine Krisen und Konflikte anstreben, die militärisch, finanz- und realwirtschaftlich sowie schließlich bei ihnen persönlich zum Untergang führen.

Genau diese politische Beschwichtigungspolitik wird durch geringe Aktienschwankungen bestätigt. Und wenn angesichts der vermeintlichen Zins-, Zoll- und Kriegsängste die Volatilität nicht jetzt auf frühere Krisenniveaus steigt, wann dann?

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit Abschluss seines betriebswirtschaftlichen Studiums 1990. Halver verfügt über langjährige Erfahrung als Kapitalmarkt- und Börsenkommentator. Er ist aus Funk und Fernsehen bekannt und schreibt regelmäßig für Cash.

Foto: Baader Bank

1 2Startseite
Weitere Artikel
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments