So zeichnet sich ab, dass der ESG-Nebel sich in Bezug auf die Maßstäbe und die Umsetzung langsam lichtet, jedenfalls für die Produkte. Die nächste Herausforderung wartet jedoch bereits: Der Vertrieb. Die neuen Vorschriften für die Finanzdienstleister harmonieren nämlich nicht eins zu eins mit der Offenlegungsverordnung. Vielmehr sieht die Neufassung einer Untervorschrift („delegierte Verordnung“) zur EU-Finanzmarktrichtlinie MiFID II zum Teil davon abweichende Kriterien vor, die der Vertrieb bei der Abfrage und dem Abgleich der Nachhaltigkeitspräferenzen des Kunden berücksichtigen muss.
Allein die Unterscheidung nach Artikel 8 oder Artikel 9 der Offenlegungsverordnung reicht dafür bei Weitem nicht aus. Insbesondere kann der Kunde nach der MiFID-Verordnung darüber hinaus Ausschlusskriterien für negative Nachhaltigkeitsauswirkungen seiner Kapitalanlage definieren, sogenannte Principal Adverse Impact Indikators (PAI).
Der Vertrieb ist dabei auf entsprechende Informationen seitens der Anbieter angewiesen. Das betonte JDC-Sachwertexperte Helmut Schulz-Jodexnis auf dem Branchengipfel. Er kritisierte erneut, dass die Publikums-AIFs – anders als die offenen Investmentfonds – bislang kaum Informationen für die ESG-Abfrage geliefert haben (siehe dazu auch Cash. Ausgabe 10/2022). Durch den inzwischen vorliegenden Gesetzentwurf zur Ausweitung der Abfragepflicht auf die 34f-Vermittler gewinnt das Thema weiter an Dringlichkeit. Denn der 34f-Vertrieb hat für die meisten AIF-Anbieter eine weitaus größere Bedeutung als die Banken und Wertpapierinstitute.
Ohne ESG-Informationen fallen die Produkte aus dem Angebot
Wenn die erforderlichen ESG-Informationen nicht vorliegen, fallen die betreffenden Produkte in der Anlageberatung automatisch aus dem Produktangebot, sofern der Kunde nicht von vornherein auf die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien verzichtet hat und damit das entsprechende Procedere entfällt. Bei dieser Frage darf der Berater den Kunden nicht lenken, betonte Schulz-Jodexnis auf dem Branchengipfel. „Wir kommen um das ESG-Thema nicht herum. Es ist verpflichtend und haftungsrelevant“, betonte er.
Für die Anbieter ist es also essenziell, dass sie spätestens bis zum Start der ESG-Abfragepflicht im 34f-Vertrieb die notwendigen Informationen soweit aufbereitet haben, dass der Vertrieb damit umgehen kann. Sonst bleiben sie womöglich auf ihren Fonds sitzen.
Das betrifft nicht nur die Artikel-8- oder -9-Fonds, sondern auch jene, die noch keine entsprechende Einstufung haben und auf die formale Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien verzichten (Artikel 6). Auch und gerade diese Fonds können PAI definieren und so bei der neuen MiFID-II-Abfrage auch dann Berücksichtigung finden, wenn die Einbeziehung von Nachhaltigkeitskriterien gewünscht ist. Zwar haben Artikel-6-Fonds weiterhin das Nachsehen, wenn der Kunde partout nur Artikel-8- oder -9-Anlagen zeichnen will. Wenn er oder sie aber zum Beispiel nur Dinge wie Kohlekraftwerke, Kinderarbeit und Korruption ausschließen möchte, sind auch Artikel-6-Fonds wieder im Rennen – sofern sie wenigstens solche PAI definiert haben.
So steht die Branche vor einer Vielzahl von Herausforderungen. Wie die Experten im Einzelnen darauf antworten, lesen und sehen Sie in den Zusammenfassungen ihrer Statements und den Videos des Branchengipfels. Die Artikel und Videos veröffentlichen wir sukzessive heute und in den nächsten Tagen.