Angesichts der jüngsten globalen Herausforderungen, insbesondere mit Blick auf die Bankenturbulenzen in den USA und Europa, ist Indiens strukturelle und fundamentale Situation recht gut. Seit der Talsohle im März haben sich die indischen Aktien erholt, wenngleich sie immer noch schlechter abschneiden als das allgemeine Schwellenländeruniversum. Wachstum, Inflation, Geldpolitik, eine reformorientierte Regierung und ein starker Bankensektor lassen uns jedoch optimistisch für die Zukunft sein.
Strukturelle Situation und Bankensektor stabil
In Zahlen heißt dies: Derzeit liegen die Erwartungen für das BIP-Wachstum im Jahr 2023 für Indien bei 5,9 Prozent, für die USA bei 1,1 Prozent, für Europa im negativen Bereich und für China bei einem Wachstum von 5,2 Prozent. Die prognostizierte durchschnittliche Gesamtwachstumsrate für die nächsten fünf Jahre liegt bei 6,1 Prozent und übertrifft damit deutlich diejenige von China.
Die Kapitalausstattung der indischen Banken ist sehr gut und die Eigenkapitalkoeffizienten liegen deutlich über den regulatorischen Anforderungen, die tendenziell etwas konservativer sind als Basel III. Auch die Bilanzen der Banken stehen im Allgemeinen sehr gut da.
Das Kreditwachstum ist kräftig und die Menge notleidender Vermögenswerte hält sich in Grenzen. Die ausländischen Forderungen gegenüber indischen Banken sind auf einem deutlich niedrigeren Niveau als beispielsweise bei Banken in den USA oder in Großbritannien. Dadurch ist das Land noch weniger anfällig für einige der globalen Probleme, die wir derzeit erleben.
Indien macht als einzige große Volkswirtschaft 6 Plätze gut
Tatsächlich lag der indische Einkaufsmanagerindex (PMI) für das verarbeitende Gewerbe im Mai bei 58,7, während der PMI für den Dienstleistungssektor bei über 60 lag. Sowohl die Faktoraktivität als auch der Binnenkonsum haben stark angezogen, und darüber hinaus sind die Inputpreise gesunken, was in Zukunft höhere operative Margen und Erträge bedeuten könnte.
Ferner haben indische Unternehmen tendenziell eine hohe Kapazitätsauslastung, was einen verstärkten Einsatz von Kapital zur Erweiterung der Kapazitäten nach sich ziehen dürfte. Die Verlagerung der Produktion von China zurück nach Indien ist ein weiterer wichtiger Faktor, der westlichen Unternehmen nicht nur eine Diversifizierung der Lieferketten, sondern auch den Zugang zum großen und wachsenden indischen Markt ermöglichen kann.
Tatsächlich stehen ausländische Direktinvestitionen auf der Prioritätenliste der Regierung, die zu deren Förderung auf steuerliche Anreize, die Entwicklung von Kompetenzen und die Erleichterung von Geschäftsabläufen setzt. Was den letzten Punkt anbelangt, so gibt es offenbar gute Fortschritte, zumindest laut dem jüngsten Ranking der Economist Intelligence Unit zum Geschäftsumfeld. Im Vergleich zum Vorjahr konnte Indien 6 Plätze gutmachen und ist damit einer der größten Aufsteiger und die einzige große Volkswirtschaft, der dies gelungen ist. Dabei sind die Fortschritte bei den meisten Parametern zu beobachten.
Zwei wichtige Parameter sind zum Beispiel die technologische Bereitschaft und die Politik gegenüber ausländischen Investitionen. Ferner treibt die Regierung rund um den Globus die Verhandlungen über Handelsabkommen voran. Das wird sich auf das verarbeitende Gewerbe auswirken. Seine Bedeutung und sein Anteil am BIP werden weiter zunehmen. Zudem rechnen wir mit einer allmählichen Aufwärtsverschiebung der Fertigerzeugnisse in der Wertschöpfungskette, sodass das verarbeitende Gewerbe das Potenzial hat, künftig deutlich mehr zur Bruttowertschöpfung beizutragen.
Für den Binnenmarkt wird erwartet, dass die Nachfrage in den Städten und auf dem Land insgesamt zunehmen wird. Bis 2030 dürfte sich der Einzelhandelsmarkt gegenüber 2018 etwa verdoppeln. Damals hatten die Einzelhandelsausgaben ihren letzten Höhepunkt erreicht, bevor sie während der Pandemie einbrachen. Seitdem hat sich der Aufschwung vor allem in den Städten vollzogen, aber der Konsum im ländlichen Raum wird im kommenden Wahlzyklus ein wichtiges Thema sein, da die Landwirtschaft nach wie vor einen großen Teil der Wirtschaft ausmacht. Die Regierung hat bereits Programme zur Unterstützung der Landwirte und der lokalen ländlichen Gemeinschaften auf den Weg gebracht.
Finanz- und Währungssituation
Dank guter Umsatzsteuereinnahmen hat die Regierung ihre Haushaltsziele in diesem Jahr bisher weitgehend erreicht. Die Devisenreserven sind seit der Corona-Krise erfreulich stark angewachsen und befinden sich wieder in der Nähe der Allzeithochs. Wir gehen davon aus, dass sich die Einnahmen aus der Umsatzsteuer mit der allgemeinen Inlandsnachfrage verbessern werden. Das sollte der Regierung bei der Haushaltskonsolidierung zugutekommen. Außerdem ist das Leistungsbilanzdefizit zurückgegangen und dürfte sich 2024 weiter verringern, wodurch die Devisenreserven ansteigen könnten. Und schließlich ist die Auslandsverschuldung Indiens mit rund 20 Prozent des BIP im Vergleich zu den Industrieländern niedrig. In den USA macht sie etwa 100 Prozent des BIP aus, in Deutschland 170 % und in Italien 130 Prozent.
Interessant für Anleger ist die Entwicklung der Zinssätze, insbesondere vor dem Hintergrund von El Niño, der die Lebensmittelpreise in die Höhe treiben könnte, und der jüngsten Drosselung der Ölproduktion durch Saudi-Arabien. Die indische Zentralbank (RBI) hat klar gesagt, dass die Senkung der Inflation auf 4 % eine absolute Priorität bleibt. Dennoch wurde der Zinssatz kürzlich bei 6,5 % belassen, was den Markterwartungen entsprach.
Ein genauerer Blick offenbart jedoch, dass die Inflation im April bereits ein Zweijahrestief erreicht hat, und dieser allgemeine Trend deckt sich mit dem Rest der Welt. Weltweit werden die Zinssätze möglicherweise nicht auf das extrem niedrige Niveau des vergangenen Jahrzehnts zurückkehren, und Indiens fiskalische Umsicht dürfte mittelfristig belohnt werden, da die aktuellen Zinssätze weiterhin hoch sind. Kurz gesagt: Die makroökonomische Situation Indiens unterscheidet sich deutlich von der vieler anderer Länder und rechtfertigt andere Bewertungen. Daher können diese Unterschiede durchaus bestehen bleiben oder sich sogar noch vergrößern, wenn das makroökonomische Gefälle weiter zunimmt.
Nicht zu günstig, nicht zu teuer
Zusammengefasst: Indische Aktien sind derzeit nicht günstig, aber sie sind auch nicht teuer, wenn man die strukturellen Trends berücksichtigt. Dazu gehören ein günstiges fiskalisches Umfeld, eine steigende Leistungsfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes und natürlich positive Rahmenbedingungen für den privaten Konsum. Was die kurzfristigere Entwicklung angeht, so beobachten wir ein sich rasch verbesserndes Geschäftsumfeld, Regierungsreformen, ein gesundes Kreditwachstum und sehr starke Einkaufsmanagerindizes, außerdem Aktienmärkte, die sich für den Zeitraum seit Jahresbeginn gerade ins Plus gedreht haben