Seit den Tiefstständen im Oktober letzten Jahres haben sich die Aktienmärkte dies- und jenseits des Atlantik in beeindruckender Weise nach oben entwickelt: Der DAX um circa 35 %, der S&P500 um gut 24 % und der Dow Jones um circa 21 %. Wie geht es jetzt an den Aktienmärkten weiter?
Versuchen wir uns dieser Frage von verschiedenen Seiten zu nähern:
Tatsächlich wird der deutsche Leitindex DAX mit einem 12-Monats-Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 11-fach heute um 10 % höher bewertet als im Oktober 2022. Doch dies entspricht immer noch einem Abschlag von 40 % gegenüber globalen Aktien. Von dieser fundamentalen Betrachtung her sehen die deutschen Aktien also relativ günstig bewertet aus. Der KGV als einzige Betrachtungsgröße reicht natürlich für eine fundamentale Aktienbewertung nicht aus, hilft allerdings als grobe Näherungsgröße.
Im Vergleich hierzu erreichte der US-Aktienmarkt im S&P500 ein KGV 20-fach, kommend von 16-fach im letzten Oktober. Der mit dem Dax besser vergleichbare Dow Jones erreichte zuletzt ein KGV von circa 18-fach, kommend von 15,5-fach im gleichen Zeitraum.
Noch teurer erscheint der Technologiesektor im Speziellen: Dessen Aktien spiegeln nun ein KGV von 30 gegenüber 20 im Oktober 2022; dies entspricht einem Aufschlag von circa 90 % gegenüber dem globalen Aktienmarkt. Bei der Betrachtung der europäischen Technologietitel scheint dies nicht im gleichen Maße der Fall zu sein. Vergleicht man jedoch die augenblicklichen Bewertungen des Technologiesektors dies- und jenseits des Atlantiks, mit den Bewertungsniveaus, die Anfang der 2000er Jahre während der TMT-Blase erreicht wurden, so sehen diese nicht ganz so dramatisch aus. Zusammenfassend kann man festhalten, dass aus der reinen Bewertungssicht die Kursniveaus sehr gedehnt erscheinen.
Eine weitere Betrachtungsweise sind die makroökonomischen und geopolitischen Einflussfaktoren. Unserer Ansicht nach befinden wir uns in einer spätzyklischen Phase, die im historischen Vergleich mit erhöhter Schwankungsanfälligkeit assoziiert werden kann. Die negative Melange der letzten Quartale bestehend unter anderem aus Lieferengpässen, hohen Energiepreisen und steigender Inflation hat sich aufgelöst beziehungsweise deutlich abgeschwächt. Auf der anderen Seite hat eine restriktivere Zentralbankpolitik in den westlichen Industriestaaten mit den entsprechenden höheren Zinsniveaus begonnen, sich auf die ökonomischen Aktivitäten auszuwirken. Dieser Effekt ist jedoch verzögert und wird seine ganze Wirkung erst noch entfalten. Dies wird sich negativ auf Gewinne und Margen der Unternehmen auswirken. Hier stellt sich die Frage, wie groß dieser Effekt aber tatsächlich sein wird. Zumindest ist ein Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität festzustellen, eine harte Landung, sprich eine größere Rezession scheint jedoch mehr und mehr unwahrscheinlich. Und über allem schweben die Damoklesschwerter von geopolitischen Konfliktherden und Handelskriegen, deren Eskalationspotential nur schwer zu greifen ist. Zusammenfassend, kann auch hier festgestellt werden, dass die durchaus hohen Bewertungsniveaus unter Risiko-Ertrags-Gesichtspunkten für Aktien derzeit nicht gerechtfertigt erscheinen.
Losgelöst von solchen fundamentalen, makroökonomischen und geopolitischen Betrachtungen locken neue Wachstumspotenziale durch neue Technologien. Künstliche Intelligenz, E-Mobilität, Virtual Reality, alternative Energiequellen… – sie treiben die Phantasie der Anleger und die massive Rally der letzten Monate. Die Hausse gerade der Technologieaktien erinnert manche an die Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende. Auch damals wurden hohe KGVs mit entsprechenden Wachstumsversprechen verknüpft. Doch im Unterschied zu damals sind die heutigen Top-Performer dieser Aktien mittlerweile etablierte Geschäftsmodelle mit entsprechend hohen Margen und CashFlows. Somit fußt dieser Aufschwung auf mehr Fundament als damals. Nichtsdestotrotz bleibt natürlich die Frage, ob die Unternehmen die in sie gesetzten Wachstumserwartungen werden erfüllen können.
Stehen wir nun vor einer Verstetigung der gegenwärtig laufenden Aktienmarkthausse, vor einer gesunden Korrektur oder einem großen Abverkauf? Und was könnte eine Korrektur auslösen? Fakt ist, dass der Markt bisher alle negativen Argumente gut absorbieren konnte. Zunehmend hinterfragen auch Marktskeptiker ihre defensiven Positionierungen und werden vermehrt wieder in den Markt hineingezogen, was die Rally zusätzlich nährt. Aus meiner Erfahrung bewegen sich die Kapital- und insbesondere die Aktienmärkte nicht in linearen Bewegungen, sondern wellenförmig. Größere Korrekturen werden meistens durch Vorkommnisse ausgelöst, die die wenigsten Marktteilnehmer auf dem Radar hatten und daher als „Schwarzer Schwan“ bezeichnet werden. Die Krux eines Schwarzen Schwanes ist eben, dass der Grund für eine Korrektur nur schwer antizipierbar ist. Auf der anderen Seite können sich Aufschwünge an den Aktienmärkten länger tragen, als man erwarten würde, gerade wenn eine skeptische Grundstimmung vorherrscht.
Wie soll man sich also nun in dieser Situation als Anleger verhalten? Langfristig sind Aktien nach wie vor das Investitionsvehikel der Wahl. Daher ist Angst bei der Anlagewahl der falsche Ratgeber. Und hier meinen wir die Angst vor einem Crash, als auch die Angst vor dem Verpassen der Hausse. Generell erwarten wir in den nächsten Wochen und Monaten holprigere Aktienmärkte, aber bis dato keinen totalen Abverkauf. Die Positionierungen der Marktteilnehmer zeigen an, dass die Luft am Aktienmarkt dünner wird, eine Korrektur richtig zu timen ist jedoch mehr als schwierig. Unserer Meinung nach fährt ein Anleger daher nach wie vor am besten mit einem Portfolio, welches über Anlageklassen, als auch innerhalb von Anlageklassen wie Aktien breit diversifiziert ist. Bei der Einzeltitelauswahl legen wir daher sehr viel Wert auf Unternehmen mit etablierten Geschäftsmodellen, Preissetzungsmacht, hohen Renditen auf das eingesetzte Kapital und gutem Management. In der gegenwärtigen Situation satteln wir keine weiteren Risiken im Technologiesektor auf, sondern präferieren defensivere Titel z.B. aus den Sektoren zyklischer Konsum und Gesundheitswesen. Global betrachtet erachten wir Aktien aus dem asiatischen und hier auch speziell aus Japan für aussichtsreicher als in anderen Weltregionen. Im Hinblick auf die transatlantischen Aktienmärkte erscheinen im direkten Vergleich europäische Aktien günstiger bewertet als ihre US-amerikanischen Pendants.
Autor Marc Decker ist Leiter Aktien bei Quintet Private Bank, der Muttergesellschaft von Merck Finck.