Noch immer tobt ein Meinungsstreit darüber, ob die gegenwärtige Inflation anhält oder in 2022 wieder abflaut. Zu welcher Seite tendieren Sie und warum?
Rädler: Die Inflationszahlen, welche wir in unseren Breiten, aber auch in den USA und den Schwellenländern derzeit sehen, dürften sich so in den nächsten Monaten und Quartalen nicht weiter fortsetzen. Allgemein sollten wir uns aber mittelfristig auf erhöhte Teuerungsraten einstellen, d.h. jenseits der Zielinflationsraten der hiesigen Zentralbanken, nicht zuletzt aufgrund der noch unterbrochenen Lieferketten. Ein anderer Punkt, der noch sehr wichtig ist, sind letztendlich die Lohnsteigerungszyklen, die bereits eingesetzt haben und sich weiter fortsetzen werden.
Willert: Ein wesentlicher Aspekt ist auch, welche Kennzahlen man für die Ermittlung der Inflation heranzieht. Schauen wir dabei auf einen klassischen Warenkorb oder findet die Inflation vielleicht in ganz anderen Bereichen statt. In manchen Assetklassen wie beispielsweise Aktien, Immobilien oder auch in der Kunst und bei historischen Autos gab es bereits eine sehr hohe Inflation. Ich sehe das auch bei uns in den Portfolios etwa im Real-Estate-Sektor, der in unseren momentumgetriebenen Portfolios überall bis zum absoluten Maximum ausgefahren ist. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass diese Entwicklung sehr zeitnah enden wird. Wir werden uns also auch weiterhin auf Inflation einstellen müssen, vielleicht in Zukunft aber auch noch stärker in den von den klassischen Warenkörben abgebildeten Bereichen.
Ney: Die anziehenden Inflationserwartungen in Europa waren zunächst Folge der gestiegenen Gas- und Rohstoffpreise. Während die Inflation im ersten Quartal noch auf hohem Niveau verharrt, dürfte sie bis Ende 2022 wieder unter die Marke von zwei Prozent fallen. Dennoch sollte man insbesondere vor dem Hintergrund anhaltend hoher Energiepreise nicht die Folgen einer möglichen Lohnpreis-Spirale vernachlässigen, wie wir sie gegenwärtig auch in den USA beobachten.
Ulbricht: Aufgrund des Negativzinses stellt sich für den Retail-Kunden in der Tat die Frage: Wohin mit dem Geld? Deshalb werden einige Assetklassen, wie u. a. Aktien- und Mischfonds, derzeit mit Liquidität geflutet. Beim Thema Kerninflationsrate können wir uns von niedrigen Niveaus in den nächsten Jahren erst einmal verabschieden, weil wir einfach eine höhere Basis haben werden. Ausgedrückt in Zahlen: Im ersten Halbjahr 2022 werden wir eher oberhalb der fünf Prozent landen, zum einen befeuert durch die Lieferkettenproblematik, zum anderen aber auch durch Verteuerungen im Nahrungsmittelsektor und Energiebereich, begleitet vom Thema Lohnsteigerungen, was in diesem Jahr noch verstärkt auf uns zukommen wird. Nach dem ersten Halbjahr ist dann zu hoffen, dass sich die Inflationskurve wieder abflacht. Sollte das nicht der Fall sein, würde die EZB in eher schwieriges Fahrwasser kommen, zumal in den USA ein restriktiverer geldpolitischer Kurs abgemachte Sache zu sein scheint. Insoweit laufen wir möglicherweise auf ein Dilemma zu.
Inflation auf der einen Seite, weiterhin Niedrigzinsen auf der anderen. Wie können Multi-Asset-Fonds hier Mehrwerte liefern?
Rädler: Wir werden in den nächsten zwei bis drei Jahren unsere Multi-Asset-Portfolios einem gewissen Realitäts-Check unterziehen. Nach einer sehr stabilen Phase von gut zehn Jahren für Aktieninvestments, treten wir künftig sicher in eine Phase ein, in der aktives Management und Flexibilität ein Muss sein werden, verbunden mit der Frage: Wie schnell steigen die Zinsen, beziehungsweise wo pendeln sich die Inflationsraten ein, und wie reagieren dann die Zentralbank darauf. Das hat beides Auswirkungen auf die Aktienseite der Multi-Asset-Portfolios. Darüber hinaus wird eine globale Ausrichtung äußerst wichtig werden, weil es bereits jetzt eine gewisse Divergenz zwischen Industrienationen und deren Zentralbanken auf der einen Seite und den Schwellenländern und deren Zentralbanken auf der anderen gibt.
Willert: Ich kann mich Herrn Rädler nur anschließen. Ich glaube auch, aktives Management wird Trumpf sein. Abgesehen vom Blitzcrash 2020 gab es seit 2009 keinen Bärenmarkt mehr. Das Gros der jungen Anleger hat keinen großen Drawdown erlebt. Das erklärt zum Teil auch die starken Zuflüsse in ETFs und nicht aktiv gemanagte Produkte. Das Thema Risikomanagement wurde schlicht und ergreifend aus den Augen verloren. Früher oder später wird sich das aber wieder ändern und das Vermeiden von Verlusten ein ganz großes Thema werden. Risikomanagement wird nur durch flexible, aktive Vermögensverwaltung möglich sein wird. Das starre Verteilen der Gelder nur zwischen Assetklassen wird zu wenig sein. Auch auf der Anleihenseite wird man in Zukunft deutlich flexibler sein müssen und möglicherweise ist auch das Duration-Management allein ebenfalls zu wenig. Man wird sich sämtlicher Assetklassen bedienen müssen, um nachhaltig Performance zu erwirtschaften.
Ney: Nach einem Zeitraum, in dem die Notenbankpolitiken einen sehr positiven Einfluss auf die Märkte ausübten, könnte nun die Reduzierung überschüssiger Liquidität dazu führen, dass sowohl bei Risikoanlagen als auch bei risikofreien Assets die Risikoprämien steigen. Anleger müssen deshalb die Auswirkungen einer solchen Drosselung über alle Assetklassen ihres Portfolios minimieren, was nicht zuletzt zu einer Änderung in der Korrelation von Aktien und Anleihen führt. Dies bedeutet den Verlust einer natürlichen Absicherung des Portfolios. Die daraus resultierenden Folgen für die Portfolio-Konstruktion lassen sich nur verhindern, wenn man über ausreichend Instrumente und Flexibilität verfügt und dies zudem ermöglicht, sich ergebende Investmentchancen im Blick zu behalten und wahrzunehmen.
Ulbricht: Ich sehe das zu 100 Prozent genau so. Ende 2018 haben wir gesehen, wie schnell es zu Verwerfungen auch am Aktienmarkt kommen kann, wenn sich der Zins nur geringfügig verändert. Deshalb sind aktives Risikomanagement, kurze Duration das Gebot der Stunde, aber auch – nach gut zehn Jahren steigender Kurse – die Reduzierung des Aktien-Exposures. Die Volatilität wird zunehmen, und vielleicht ist es tatsächlich ratsam, dann eher auf Branchen und Themen zu fokussieren als den ganzen Markt im Visier zu haben. Die Multi-Asset-Fonds, die in diesem Jahr gut gelaufen sind, haben das in erster Linie einem sehr hohen Aktienanteil zu verdanken. Das wird sich künftig sicher verändern.
Herr Dr. Ulbricht, Sie haben eben ausgeführt, dass die Nachfrage nach Multi-Asset-Fonds mit Aktienschwerpunkt im letzten Jahr vergleichsweise hoch war. Trifft das auch auf andere Bereiche zu?
Ulbricht: Kurioserweise stellt sich die Situation komplett unterschiedlich dar. Neben Multi-Asset-Fonds waren auch reine Aktienfonds sehr stark nachgefragt, insbesondere mit einem Fokus auf die Sektoren Technologie und Gesundheit. Anders als früher, als zu bestimmten Zeitpunkten bestimmte Schwerpunkte favorisiert wurden, wird derzeit die gesamte Breite aller Assetklassen als Investmentziel genutzt.
Willert: Bei uns waren die Mittelzuflüsse in 2020 und 2021 relativ moderat. Das liegt auch daran, dass nach über einem Jahrzehnt ständig steigender Märkte Produkte, deren Kernstrategie das Vermeiden langer und großer Drawdowns ist, etwas aus dem Fokus geraten sind. Üblicherweise ist das allerdings ein recht guter Indikator dafür, dass die nächste größere Marktkorrektur nicht mehr so weit entfernt ist.
Rädler: Bei uns ging es unweigerlich in Richtung ETFs. Dieses Thema ist durchgerollt wie eine Lawine. Und dabei ging es sehr viel stärker um Themen-ETFs, als um die Replikation oder Abbildung eines bekannten Indexes. Die Zuflüsse in den normalen ETFs waren und sind definitiv der Kostenfrage geschuldet. Selbst Großinvestoren bedienen sich der ETFs, um ihre eigene Asset Allocation möglichst kostengünstig zu managen. Die Themen-ETFs hingegen sind überwiegend ein Retail-Phänomen, weil sich die Anleger sehr klar mit der dahinterstehenden Idee identifizieren. Häufig hört diese allerdings leider bereits bei der Überschrift des ETFs auf.
Wie hat sich in den letzten Jahren die strategische Asset Allocation bei Multi-Asset-Fonds verändert?
Ney: Während der letzten zehn Jahre haben preiswertes Geld und die Zinssenkungen der Notenbanken die Aktienmärkte befeuert. In diesem Umfeld haben Investoren den Anteil von Risikoanlagen innerhalb ihrer Allokation ausgebaut. Mit der Rückkehr der Inflation und einer höheren Volatilität in den Märkten könnten sich diese Trends der letzten Jahre erneut verändern.
Rädler: Das Gewicht der Aktien wurde in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Dies ist nicht zuletzt dem Niedrigzinsumfeld geschuldet, auf Grund dessen wir von der Anleihen-Seite immer weniger Renditebeiträge erwarten können. Auch die Rohstoffe sind seit Mitte 2020 wieder in den Portfolios – in denen es erlaubt ist – vertreten. In unseren nachhaltigen Produkten dürfen wir diese Anlageklasse jedoch nicht nutzen.
Willert: Wir haben gegenwärtig eine sehr hohe Aktienquote von über 90 Prozent. Und auch die bereits angesprochenen Themenfonds spiegeln sich in den Portfolios wider, etwa die Sektoren E-Commerce, Automation and Robotics, Logistics. Sehr viel wird bei uns auch über ETFs abgedeckt, die generell immer mehr Raum einnehmen und teilweise schon 40, 50 Prozent der Portfolios ausmachen. Auch Rohstoffe haben wir seit einigen Monaten wieder im Portfolio.
Wenden wir uns einmal dem Megatrend Nachhaltigkeit zu. Wie wichtig ist das Thema ESG im Rahmen Ihrer Multi-Asset-Fonds?
Willert: Unser einziger Einzeltitelfonds in diesem Bereich ist der ARTS Total Return ESG. Der Grund dafür ist, dass es derzeit keinen Sinn macht, einen trendfolgenden, momentumgetriebenen Dachfonds auf ESG-Basis zu konzipieren. Die Korrelation innerhalb der ESG-Zielfonds ist derartig hoch, dass es gar keine Möglichkeit einer Sektorrotation gibt. Wir haben etwas über 400 Fonds in der Datenbank, die wir dem Sektor Sustainability zugeordnet haben, und die Korrelation ist weit über 0,9 innerhalb dieser Fonds. Die Auflegung des ARTS Total Return ESG ist einzig auf die Nachfrage aus dem Vertrieb geschuldet, der uns ein Interesse nach einem nachhaltig und trendfolgend vermögensverwaltend gemanagten Produkt signalisiert hat. Das war unser Approach zu dem Thema, wobei wir zugeben müssen, keine Spezialisten für das Thema zu sein. Deshalb haben wir auch die Überprüfung unseres Anlage-Universums an ISS ESG übergeben.
Ney: Wir haben den Carmignac Portfolio Patrimoine Europe als Artikel 8-Fonds konzipiert, der als Multi-Asset-Fonds mit sozialverantwortlichem Fokus investiert. Wir glauben, dass SRI Teil unserer Ziele ist, die wir mit entsprechend attraktiven langfristigen Perspektiven erreichen können. Deshalb haben wir SRI vollumfänglich in unseren Investmentprozess integriert.
Rädler: Stiftungs- oder Kirchenfondmanager haben sicherlich bereits die ESG-DNA in sich, sind aber in den vergangenen Jahren oftmals eine Randerscheinung geblieben, weil die Anlagegrundsätze viel zu restriktiv waren und die Ertragschancen eher limitiert wurden. Neben dem Aufbau interner ESG-Expertise, ziehen wir 14 Datenprovider, die in den letzten Jahren ebenfalls deutlich dazugelernt haben, bei diesem Thema heran. Das zunehmende Angebot und die wachsende Transparenz ermöglichen es, dass eine immer breitere Investorengemeinschaft sich überhaupt für nachhaltige Investments interessiert. Dies zieht übrigens auch eine höhere Bereitschaft nach sich, Daten bereitzustellen und erzeugt so wiederum mehr Transparenz.
Selbst bei nur einer Assetklasse ist die Auswahl ESG-konformer Investments nicht leicht. Bei Multi-Asset-Fonds stelle ich es mir noch ungleich schwerer vor. Wie herausfordernd ist die Integration von ESG-Kriterien in einem Multi-Asset-Portfolio?
Rädler: Im Endeffekt liegt der Hauptfokus der Intergration auf den beiden Assetklassen Anleihen und Aktien. Darüber hinaus gibt es noch zwei weitere eher periphere Assetklassen, die in Frage kommen. Das sind zum einen Währungen und zum anderen Derivate, bei denen die ESG-Tauglichkeit durchaus kontrovers diskutiert wird. Deshalb haben wir uns mit dem Amundi Welt Ertrag Nachhaltig zum Beispiel für das deutsche FNG-Siegel beworben, um uns eine dritte unabhängige Meinung einzuholen. Dort sind Derivate als Beimischung zur Portfoliosteuerung erlaubt. Für Beimischungen im spekulativen Gebrauch gibt es hingegen beim FNG Punktabzüge. Durch die Fortschritte der Datenanbieter ist die Integration von ESG-Kriterien nicht mehr so herausfordernd wie in der Vergangenheit. Aktuell können wir auf ein Universum von rund 13.000 Unternehmen zurückgreifen, welches durch unser ESG Team anhand von insgesamt 37 allgemeinen und sektorspezifischen Kriterien fortlaufend überprüft wird. Die Anzahl der gescreenten Unternehmen wächst kontinuierlich. Wir sind erst am Anfang dieser Reise und es muss sich noch eine Menge tun. Vonseiten der Unternehmen, der Datenprovider, der Asset Manager, aber auch vonseiten der Regulatoren und Gesetzgeber muss in den nächsten Jahren klar heraus gearbeitet werden: Was sind die Regeln explizit, wie transparent sind sie und vor allem benötigen wir auch eine Angleichung zwischen den einzelnen Ländern. Wir müssen das Thema ESG eher in einem europäischen, besser noch in einem globalen Kontext sehen. Österreich hat zum Beispiel noch sehr viel strengere Auslegungen im Bereich der Nachhaltigkeit. Das Öko-Siegel dort ist um einiges strikter als das FNG-Siegel. Die Frage ob Atomkraft als nachhaltige Energie betrachtet werden kann wird nach wie vor kontrovers betrachtet, auch wenn sich durch die Taxonomieverordnung eine Entscheidung abzuzeichnen scheint. Der Regularienteppich muss sich also geografisch erst noch angleichen. Das ist auch für Anleger wichtig, denn nur wenn ein Fonds auch wirklich nachhaltig ist und das transparent wird, profitiert der Anleger davon.
Ney: Während die Integration von ESG-Kriterien für Aktienfonds immer wichtiger wird, war dies für Multi-Asset-Fonds lange Zeit ein wunder Punkt. Wie bereits erwähnt, haben wir für den Carmignac Portfolio Patrimoine Europe einen SRI-Ansatz gewählt, der sowohl Aktien als auch Unternehmens- und Staatsanleihen umfasst. Zur Umsetzung nutzen wir unsere unternehmenseigene quantitative Analyse, ergänzt um die menschliche Komponente und unabhängige Analysen. Für meinen Kollegen Mark Denham ist die Integration von ESG ein entscheidender Faktor, um Firmen mit einer langfristigen Wachstumsperspektive aufzuspüren. Wir glauben, dass es in Europa eine Vielzahl von hochqualitativen Firmen in diesem Segment gibt, allen voran im Gesundheitssektor.
Willert: Ein flächendeckender Standard wäre in der Tat sinnvoll und auch wichtig. Das würde auch die Siegel-Flut mit zum Teil sehr unterschiedlichen Kriterien-Katalogen eindämmen. Wir verwenden beispielsweise das deutsche FNG-Siegel und das Österreichische Umweltzeichen. Das heißt, bei uns kann eine Aktie nur ins für uns handelbare Universum kommen, wenn es beide Kriterien erfüllt, wobei das österreichische noch strenger ist, weil dort grundsätzlich 50 Prozent des verfügbaren Universums ausgeschlossen werden müssen. Die wenigsten Privatanleger, aber auch die Berater haben Zeit, Energie und Nerven, sich die Einzeltitel des jeweiligen Produkts anzuschauen, um zu entscheiden, wie nachhaltig die Strategie ist. Ein einheitliches europäisches Siegel wäre also extrem hilfreich. Allerdings muss man schon sehr optimistisch sein zu glauben, dass das halbwegs zeitnah zustande kommen könnte.
ESG in der Beratung scheint noch Luft nach oben zu haben. Eine aktuelle Studie von Nordea spricht davon, dass Berater und Vermittler ihre Kunden nur unzureichend über das Thema aufklären. Wie ist Ihre Wahrnehmung?
Ulbricht: Im Hinblick auf den Retailmarkt ist es ein sehr vielschichtiges und breites Thema mit jeder Menge Aufklärungsarbeit für den Berater. Denn es gibt im Moment einfach noch zu viele Terminologien, zu viele Begrifflichkeiten und zu viele Dinge, die mit den Themen Nachhaltigkeit, grün und ESG in Verbindung gebracht werden, aber in diesem Kontext eigentlich gar nichts zu suchen haben. D.h. es ist zunächst einmal zu klären, was versteht der Kunde unter ESG, wie hat der Gesetzgeber es definiert und wie wird es von den Asset Managern umgesetzt. Letztlich stellt sich auch die Frage, ob die Ergebnisse in ein oder eineinhalb Jahren, wenn der Gesetzgeber alles ausformuliert hat, dann auch tatsächlich noch den Antworten der Kunden standhalten. Auf der anderen Seite ist ESG aus meiner Sicht ein Mega-Thema für die kommenden Jahre. Industrie und Wirtschaft werden um das Thema Nachhaltigkeit und Angaben zur Nachhaltigkeit wie etwa wie lebe ich das Thema CO2-Fußabdruck nicht mehr herumkommen. Die kreditgebenden Banken beispielsweise halten ihre Firmenkunden dazu an, sich dem ESG-Thema zu widmen, um nicht ein negatives Kreditrating zu erhalten. Mir wäre es in der Tat auch lieber, der Gesetzgeber würde zügiger sagen, in welche Richtung es gehen soll. Für die Beratung von Retailkunden ist dies enorm wichtig.
Apropos Retailkunde: Was bekommen Sie denn von den Vermittlern gespiegelt, ist ESG ein Push- oder ein Pull-Thema?
Ulbricht: Sowohl als auch. Wir haben einige Berater, die diesen Weg der Nachhaltigkeit schon seit einigen Jahren beschreiten und die sich in diesem Segment einen entsprechenden Kundenstamm aufgebaut haben. Dort ist die Nachfrage natürlich sehr groß, auch gerade jetzt in der Phase der Negativ-Zinsen, wenn nicht unbedingt das Renditemaß im Vordergrund steht, sondern eher der Effekt des Impact-Investings. Das ist ein starkes Thema, das sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Berater, die sagen, jetzt kommt wieder etwas Regulatorisches auf uns zu, bei dem wir verstärkt Aufklärungsarbeit leisten müssen und der Umsatz ein Stück weit auf der Strecke bleibt. Das muss aber nicht sein, im Gegenteil. ESG bietet aus meiner Sicht auch sehr viele Möglichkeiten, um noch einmal aktiv den Kontakt mit dem Kunden zu suchen und möglicherweise auch noch einmal Allokationen im Portfolio vorzunehmen. Es ist also ein Sowohl-als-auch-Spiel. Und es gibt natürlich auch den Retail-Kunden, der ESG-Produkte von sich aus nachfragt. Das trifft insbesondere auf die jüngeren Anlegerinnen und Anleger zu.
Erste Asset Manager beginnen, Bitcoin in Mischfonds aufzunehmen. Wie bewerten Sie das und ist das auch eine Strategie, die Sie ebenfalls erwägen könnten?
Rädler: Das lässt sich recht kurz beantworten. Amundi hat sich als Haus mit starkem Nachhaltigkeitsfokus gegen das Investieren in Kryptowährungen entschieden. Das ist nicht zuletzt auf den enormen Stromverbrauch beim Mining von Kryptowährungen zurückzuführen. Beispielsweise benötigt Bitcoin eine Energie von 140 Terawatt Stunden pro Jahr. Zum Vergleich: Norwegen hatte einen Verbrauch von 132 Terawatt im letzten Jahr. Es stellt sich also schon die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Und als nachhaltiger Portfoliomanager darf ich dort ohnehin nicht investieren. Zudem ist es äußerst schwierig, den intrinsischen Wert von Kryptowährungen zu ermitteln. Selbst Tesla ist aus diesem Grund kein investierbares Unternehmen. Auf einem ganz anderen Blatt steht die dahinterliegende Blockchain-Technologie, die sehr interessant ist und viele neue Möglichkeiten auch abseits von Kryptowährungen eröffnet.
Willert: Grundsätzlich sind Kryptowährungen schon ein interessantes Asset. Ich stehe aber vor derselben Herausforderung wie Herr Rädler. Ich kann es nicht kaufen, weil es in Ucits-Form so gut wie nicht möglich ist. Alle Versuche, Kryptowährungen in ein Ucits-Format zu packen, sind bis jetzt gescheitert. Man muss aber in der Tat unterscheiden zwischen Kryptowährungen einerseits und der Blockchain-Technologie andererseits. Es gibt bereits ETFs, die gezielt in Blockchain-Unternehmen investieren. Grundsätzlich glaube ich auch, dass die Blockchain-Technologie gekommen ist, um zu bleiben. Künftige Generationen werden sich aber sicher stärker den Kryptowährungen zuwenden. Schließlich macht es keinen Sinn, Gold im Portfolio zu haben, Bitcoin aber nicht. Beide Assets haben fundamental so gut wie keinen Wert. Gold ist ein fast unbrauchbares, weiches Metall. Man verwendet es in der Schmuckindustrie, es hat aber kaum einen industriellen Nutzen. Bei Bitcoin ist es ähnlich. Er besitzt überhaupt keinen intrinsischen Wert. Aber um es auf den Punkt zu bringen: Die Ucits-Regulatorik verhindert bisher einen Einsatz von Kryptowährungen in unseren Fonds. Wäre es anders, würden wir in der Tat dort investieren, auf Grund der Energieintensität natürlich nicht im ESG-Fonds.
Ney: Auch wir bei Carmignac investieren nicht in Kryptowährungen, beobachten aber natürlich die Entwicklung von Bitcoin, Ethereum und Co. Wir sind darüber hinaus auch insbesondere an der Blockchain-Technologie interessiert, die zukünftig entscheidende Entwicklungen bringen und Herausforderungn für zahlreiche Industrien bedeuten können, angefangen mit dem Bankensektor.
Mittlerweile gibt es wohl auch drei, vier reine Kryptowährungsfonds. Welches Potenzial hat das Thema auf der Vertriebsseite?
Ulbricht: Es wird natürlich darüber gesprochen und das eine oder andere Mal auch nachgefragt. Aber diejenigen, die dort unbedingt investiert sein wollen, machen es direkt bzw. über Plattformen und nicht über den Umweg Fonds. Da das Thema noch sehr jung und aktuell regulatorisch schwer greifbar ist, hat es ein ganz anderes Risikoprofil, als etwa ein Fonds mit Anleihen und Aktien. Es birgt Chancen, aber auch sehr viele Risiken. Insofern müssen die Kunden sehr deutlich über die Risiken aufgeklärt werden. In der Vergangenheit hat es eher eine untergeordnete Rolle gespielt. Auf der anderen Seite haben wir ja auch gesehen, dass in den letzten 18 Monaten das Thema Aktien und Investmentfonds auf diesem Gebiet richtig in Schwung gekommen ist. Das war in der Zeit davor noch ganz anders.
Schauen wir zum Schluss auf das noch junge Jahr 2022. Was sind die Blockbuster-Segmente und wo lauern möglicherweise Risiken?
Willert: Es gibt noch immer den berühmten Spruch „Ein Trendfolger, der eine Marktmeinung hat, ist keiner“. Aber Spaß beiseite. Ich denke, es kommt in diesem Jahr sehr darauf an, ob man über einen Handelsansatz verfügt, der wirklich flexibel ist, wenn es einmal zu größeren Bewegungen an den Märkten kommt. Insbesondere auf der Anleihenseite wird es mit einem ganz klassischen Buy-and-Hold-Ansatz nicht einfach sein, zu reüssieren. Das Risikomanagement wird erneut zunehmend wichtig sein. Früher oder später wird es wieder zu einer sehr großen Korrektur an den Märkten kommen. Dann wird so mancher froh sein, in ein aktiv gemanagtes Produkt investiert zu haben, das zumindest einen Teil des Drawdowns abfedert.
Ney: Abgesehen von „Schwarze-Schwäne“-Risiken, hervorgerufen durch Ereignisse wie die Covid-Pandemie oder geopolitische Risiken, betreffen die größten Unwägbarkeiten für 2022 die Themen Inflation, Wachstumsaussichten und das Agieren und Reagieren der Notenbanken. In dieser Gemengelage favorisieren wir Aktien, auch wenn uns bewusst ist, dass wir in den nächsten Monaten mehr Volatilität in den Märkten sehen könnten. Diese Volatilität könnte zu Rückgängen bei Papieren führen, die wir mögen, und dadurch Kaufgelegenheiten zu attraktiven Preisen bieten. Sollte der Rückgang indes zu groß ausfallen, würden wir nicht zögern, unser Aktien-Exposure aktiv zu steuern, um den Wertverlust für unsere Anleger zu minimieren.
Rädler: Gewinner in diesem Jahr werden nach wie vor Aktien sein, trotz der hohen Bewertung. Und auch Growth-Titel haben trotz steigender Zinsen Potenzial. Jedoch werden Geografie und Sektor Selektion eine äußerst wichtige Rolle einnehmen. Bei den großen Industrie-Geografien sehen wir die USA weiterhin vor Europa. Es ist noch nicht die Zeit für den klassischen Value versus Growth Trade. Bei den Schwellenländern blicken wir dieses Jahr wieder mehr ins Reich der Mitte, das in 2021 relativ schwach war. Jetzt sieht man hier die eine oder andere Stimulimaßnahme. Regulatorisch gibt es da jedoch noch einiges aufzuräumen für die Chinesen. Nichtsdestotrotz denken wir, dass auch hier nicht zuletzt aufgrund der Zero-Covid-Strategie doch das eine oder andere wieder möglich sein sollte, was sich dann auch in den Aktienkursen widerspiegeln wird. Bei Lateinamerika bleiben wir noch zurückhaltend.
Ulbricht: Nicht zuletzt aufgrund der Zins- und der Inflationssituation führt an kurzen Durationen, aktivem Management und an Aktien kaum ein Weg vorbei. Allerdings gilt es, sich bestimmte Themen, Titel und Branchen mit Potenzial herauszusuchen. Einmal unterstellt, dass die Covid-Pandemie spätestens mit Beginn 2023 doch einmal vorbei ist, muss man sich ansehen, welche Profiteure es in den einzelnen Branchen gibt. Darüber hinaus sehe ich auch China, das sich in 2021 negativ entwickelt hatte, im Fokus.
Die Diskussion leitete Frank O. Milewski, Cash.