Für Aktien sprechen vor diesem Hintergrund vor allem die niedrigen Bewertungen. Sie resultieren aus den teils deutlich gestiegenen Firmengewinnen bei gleichzeitig stark gefallenen Kursen. „Wir haben in den vergangenen Monaten eine deutliche Anpassung der Bewertungen gesehen“, konstatiert Ulrich Stephan, Chefanlagestratege für Privat- und Firmenkunden der Deutschen Bank. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis unter Berücksichtigung der Zwölfmonats-Ertragserwartungen für den Stoxx Europe 600 lag Anfang Dezember nur noch bei 12,2. Anfang 2021 notierte es noch über 15.
Die Marktexperten von J.P. Morgan Asset Management leiten daraus erhebliches Aufwärtspotenzial ab: „Angesichts der nun deutlich niedrigeren Bewertungen und höheren Renditen bieten sich prospektiv die besten langfristigen Ertragschancen seit mehr als einem Jahrzehnt“, lautet der Tenor der 27. Ausgabe der „Long-Term Capital Market Assumptions“ des US-Vermögensverwalters. Die Analyse aggregiert die Ertrags- und Risikoerwartungen für rund 200 verschiedene Anlageklassen und Strategien von mehr als 90 weltweit tätigen Experten für die nächsten zehn bis 15 Jahre. Insgesamt fließen rund 9.000 Research-Stunden in den Bericht ein. „Während die Märkte kurzfristig herausfordernd bleiben, steht Investoren zum ersten Mal seit Jahren ein komplettes Arsenal zur Allokation zur Verfügung“, frohlockt JPM-Kapitalmarktstratege Tilmann Galler.
Auch die Landesbank Hessen-Thüringen sieht die wichtigsten Bedingungen für eine Bodenbildung erfüllt, insbesondere für deutsche Dividendentitel. Der sogenannte Helaba-Best-Indikator, ein Bewertungsbarometer, das die Stimmung der Marktteilnehmer und die technische Situation für den Dax widerspiegelt, sendete Ende November ein Kaufsignal. Die Helaba geht davon aus, dass der deutsche Leitindex bis Ende 2023 die Marke von 16.000 Punkten ansteuert.
Neben der niedrigen Bewertung spricht für Aktien auch die Tatsache, dass die Börse der Konjunktur stets vorausläuft. Eine leichte Rezession gilt unter dem Gros der Experten bereits als eingepreist. „Sobald sich eine wirtschaftliche Erholung abzeichnet, sollten die Kurse steigen“, folgert daher Deutsche Bank-Anlagestratege Stephan, „Rücksetzer könnten gute Einstiegschancen bieten“. Er geht davon aus, dass viele börsennotierten Unternehmen gut durch die konjunkturell schwierigere Phase kommen werden, denn: „Die Gewinne sollten sich deutlich solider entwickeln als in früheren Rezessionen.“ Insbesondere Banken etwa profitieren seiner Ansicht nach vom veränderten Zinsumfeld. Auch die Energie- und die Grundstoffbranche sowie der Bergbau, die bislang in Rezessionen Einbußen erlitten, sollten aufgrund der hohen Energie- und Rohstoffpreise sowie der starken Nachfrage gut durch den Abschwung kommen.
Für Lars Reiner, CEO des digitalen Vermögensverwalters Ginmon, macht auch der Blick in die Finanzgeschichte Mut. „Rein historisch betrachtet liegt die Wahrscheinlichkeit eines positiven Jahres im S&P 500 seit 1930 bei rund 69 Prozent – unabhängig davon, ob das Vorjahr gut oder schlecht war.“ Zudem entwickeln sich nach Beobachtung von Reiner die Umsätze und Gewinne der Unternehmen trotz aller Sorgen um eine globale Rezession weiterhin erfreulich positiv. Einen besonderen Blick wert ist für ihn der sogenannte Value-Faktor, der niedrig bewertete Unternehmen abbildet. Gerade in Zeiten höherer Preis- und Zinsniveaus erweist er sich als besonders widerstandsfähig, da es sich dabei vor allem um etablierte Unternehmen mit soliden Cashflows, geringer Verschuldung, großer Markenbekanntheit und langfristigen Kundenbeziehungen handelt.
Zu einer bedächtigen Herangehensweise rät derweil Knut Hellandsvik, Leiter Aktien bei DNB Asset Management. „Normalerweise erreicht der Markt die Talsohle erst, wenn die Gewinnrevisionen einen Tiefpunkt erreichen“, gibt der Stanford-Absolvent zu bedenken. Dies hält er jedoch erst in einigen Quartalen für wahrscheinlich. „Wir befinden uns mitten in der aggressivsten Zinserhöhungsphase seit 40 Jahren, und es wird einige Zeit dauern, bis wir die Auswirkungen auf die Realwirtschaft sehen“, meint Hellandsvik. Chancen ortet er vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen, nachdem sie in den vergangenen zwölf Monaten eine historisch schlecht abgeschnitten haben. Wachstumstitel dürften dann die Nase vorn haben. „Im Jahr 2022 haben wir bisher die größte Outperformance von Value gegenüber Growth seit dem Jahr 2000 erlebt“, erläutert der DNB-Aktienchef, „da sowohl die Inflation als auch die realen Renditen sinken, kann man davon ausgehen, dass Growth relativ besser abschneiden wird“.
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