Zuletzt richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten von ChatGPT und ähnlichen Anwendungen, die den Wechsel von der traditionellen zur generativen KI verkörpern: von der Erzeugung bestimmter Ergebnisse auf der Grundlage vorgegebener Regeln hin zu eigenständigen Lernmustern, der Fähigkeit, aus Daten Schlussfolgerungen zu ziehen und ganz neuer Inhalte zu erzeugen, auf einem Niveau, das zuvor ausschließlich dem Menschen vorbehalten war.
Zweifellos ist KI eines der großen Wachstumsthemen der nächsten zehn Jahre und möglicherweise darüber hinaus. Die Herausforderung besteht nun darin, zwischen kurzfristigem Hype und echten langfristigen Anlagegelegenheiten zu unterscheiden. Wo liegen also die Chancen entlang der KI-Wertschöpfungskette?
Trotz Hype: KI steckt noch in den Kinderschuhen
Im Jahr 2023 ließ sich beobachten, wie ein Großteil der potenziellen KI-Wertschöpfung vorgezogen wurde und sich bereits in den Bewertungen und Aktienkursen verschiedener Technologieunternehmen widerspiegelte. Unternehmen, die von dieser generationenübergreifenden Wachstumschance möglicherweise profitieren könnten, legten am Aktienmarkt stark zu. Dabei ist das Verständnis und der Einsatz von KI auf breiter Ebene derzeit noch gering, abgesehen von einigen öffentlichkeitswirksamen Fällen wie der Einbettung umfangreicher Sprachmodelle in Internet-Suchmaschinen. Wir stehen erst am Anfang der Entwicklung der multimodalen Systeme, die für eine künstliche „allgemeine“ Intelligenz erforderlich sind.
Aus Investitionsperspektive ist es deshalb noch zu früh, um endgültige Einschätzungen zu realen und industriellen Anwendungen zu geben. Im Moment versuchen wir, die potenziellen positiven und negativen Auswirkungen der KI zu bestimmen, zu verstehen, welche Faktoren das Tempo der Einführung beschleunigen oder verlangsamen könnten, und über einen potenziellen Investitionsrahmen in der Gegenwart und auf längere Sicht nachzudenken.
Entlang der KI-Wertschöpfungskette zeichnen sich jedoch drei Sektoren ab, die bereits heute oder in naher Zukunft von der neuen Technologie profitieren werden:
- KI-Entwickler und -Anwendungsanbieter
Ein wesentlicher Teil des aktuellen KI-Hypes konzentriert sich derzeit auf die Firmen, die KI-Modelle entwickeln. So beispielsweise OpenAI, das durch den Erfolg von ChatGPT einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Bei vielen KI-Modellen schließen wir nicht aus, dass sie tatsächlich irgendwann zu Standardprodukten werden. Allerdings gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende von Start-ups, die das nächste bahnbrechende Produkt entwickeln wollen. Es lässt sich nur schwer vorhersagen, wem dies am Ende gelingen und wer von ihnen sich durchsetzen wird.
Ein entscheidender Faktor dabei ist der Datenzugang: Für das Training der KI werden umfangreiche Datenmengen benötigt, und natürlich sind die Eigentümer großer Datenbanken mit nicht öffentlichen Informationen hier im Vorteil, etwa die bekannten Technologieriesen.
Hinzu kommt: Die Entwicklung eines hochmodernen, universell einsetzbaren KI-Grundmodells erfordert Milliarden von US-Dollar sowie Talente aus einem sehr begrenzten Talentpool. Es gibt zwar auch viele Start-ups, die enorme Kapitalsummen in die Entwicklung ihrer KI-Modelle investieren. Aber wir gehen davon aus, dass aufgrund der Größenanforderungen und der hohen Eintrittsbarrieren nur wenige in der Lage sein werden, nachhaltig konkurrenzfähig zu sein. Am Ende dürfte es deshalb nur eine kleine Handvoll großer Gewinner im Bereich der KI-Modelle geben.
Deshalb konzentrieren wir uns auf die bereits etablierten Unternehmen, die KI-Funktionen mit Erfolg in ihre derzeitigen Anwendungen integrieren können. Hier sehen wir kurzfristig die größeren Chancen. Diese Unternehmen haben die Möglichkeit, KI bereits heute zu monetarisieren, da sie ihre Preise durch die KI-Erweiterung erheblich anheben können. Ein Beispiel dafür ist das Softwareunternehmen Microsoft. Es kann das bestehende Office-365-Paket um KI-Funktionen ergänzen und dafür deutlich höhere Abonnementpreise verlangen. In diesem Teil der KI-Wertschöpfungskette rechnen wir in den nächsten zehn Jahren mit deutlichen Fortschritten. - Computertechnik
Unmittelbare Chancen sehen wir auch bei den Unternehmen, die die Komponenten bereitstellen, die KI-Anwendungen überhaupt erst möglich machen. Sowohl das Training von KI als auch die Einführung neuer Modelle sind sehr rechenintensiv. Halbleiter bilden, wenn man so will, das Gehirn der KI. Der Halbleitersektor dürfte deshalb frühzeitig vom KI-Trend profitieren. Er ist zwar konjunktursensitiv, verspricht jedoch weiter exponentielles Wachstum. Das Marktvolumen könnte sich fast verdoppeln, von etwa 500 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 auf über eine Billion US-Dollar zum Ende des Jahrzehnts.1 Ein Großteil davon dürfte auf die wachsende Nachfrage nach Rechenleistung aufgrund von KI entfallen. - Infrastruktur
Auch Infrastrukturanbieter dürften von den Entwicklungen rund um KI profitieren. Dazu zählen unter anderem große öffentliche Cloud-Anbieter wie Azure von Microsoft, mit denen Unternehmen ihre Rechenleistungen über große Datenzentren in die Cloud verlagern können. Der Vorteil davon ist, dass Kunden bei Bedarf Zugang zu den fortschrittlichsten und leistungsfähigsten Computersystemen haben, aber lediglich für die Nutzungszeit bezahlen und solche Systeme nicht selbst vorhalten müssen.
Zum Infrastruktur-Bereich gehören zudem Hersteller von Hardware, wie Netzwerkkomponenten und Schaltern, sowie die Anbieter von Software, die die Cloud effizienter macht. Letztere ist wichtig, da KI eine hohe Rechengeschwindigkeit und Datenbandbreite erfordert.
Fazit: Letztlich sehen wir nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, wie Firmen und Anwender von KI profitieren können. Es ist schwierig, sich Sektoren vorzustellen, die nicht in irgendeiner Weise von KI positiv beeinflusst werden könnten, aber es gibt Bereiche der Weltwirtschaft, in denen die kurzfristigen Auswirkungen deutlicher sind, darunter das Gesundheitswesen, Energie, autonome Fahrzeuge und die Landwirtschaft. Im Gesundheitswesen beispielsweise beginnt sich KI bereits in so unterschiedlichen Bereichen wie der Arzneimittelforschung, der medizinischen Diagnose und der Scan-Analyse durchzusetzen. Im Energiesektor könnte sich KI positiv auf die Optimierung der Stromnetze und die Vorhersage der Nachfrage auswirken und die Leistung und Effizienz von Energiespeichern verbessern. In der Landwirtschaft wiederum könnte sie dazu beitragen, den Weg zu einer präziseren Landwirtschaft zu ebnen, die Bewässerung zu optimieren und Ernteerträge vorherzusagen und zu verbessern.
Bei all den Chancen, die sich bereits heute abzeichnen, darf man jedoch nicht vergessen, dass sich KI noch am Anfang seiner Entwicklung befindet. Niemand weiß genau, wie sie in zehn Jahren aussehen wird, wann Endnutzer der neuen Technik vertrauen und sie breit anwenden, und wie stark KI in unseren Alltag integriert sein wird. Umfangreiche Analysen und aktive Anlagestrategien werden deshalb auch künftig entscheidend bleiben, um KI-Hype und -Realität auseinanderzuhalten.
Autor Christophe Braun ist Equity Investment Director bei der Capital Group.