Assekuranz-ESG-Monitor: Probleme bei der Definition von „sozialen Investitionen“

Das "S" in den ESG-Kriterien soll soziale Nachhaltigkeit transparent und messbar machen. Jedoch ist gerade der soziale Aspekt für Investoren am schwierigsten zu analysieren, zu messen und vor allem zu vergleichen.

In der ESG-Taxonomie wird definiert, was eine soziale Investition ist und welche Aktivitäten wesentlich zum Erreichen sozialer Ziele beitragen. Die EU-Kommission will dieses Instrument – analog der EU-(Umwelt-)-Taxonomie – im Rahmen ihrer Bemühungen um ein nachhaltiges Finanzwesen einführen. Die Platform on Sustainable Finance hat am 28. Februar 2022 ihren Abschlussbericht über eine mögliche Struktur der EU-Sozialtaxonomie vorgelegt. Assekurata hat die wichtigsten Punkte in ihrem Assekuranz-ESG-Monitor zusammengefasst.

Die Folgen des fehlenden Standards 

Der soziale Aspekt der ESG-Kriterien sei für Investoren am schwierigsten zu analysieren, zu messen, in die Anlagestrategie einzubetten und letztlich auch zu vergleichen, argumentiert die Platform on Sustainable Finance nach Auswertung verschiedener Studien. Das Fehlen eines Standards für soziale Investments führe dazu, dass die Analysen von ESG-Rating-Agenturen bei den sozialen Kriterien am stärksten voneinander abwichen.

Soziale Investitionen seien notwendig, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) der UN-Agenda 2030 zu erreichen und den im Vertrag über die Europäische Union verankerten sozialen Binnenmarkt zu schaffen, so die ständige Expertenkommission der EU-Kommission in ihrem Final Report on Social Taxonomy.

Die Experten weisen auf eine hohe Nachfrage nach Sozialanleihen (zur Finanzierung von Sozialwohnungen, Gesundheitsversorgung und Arbeitsplätzen für bestimmte Gruppen) hin. Investoren stuften soziale Investments als Chance ein und seien sich des Risikos von Reputationsschäden bewusst, wenn soziale Faktoren vernachlässigt würden.

Soziale Investitionen müssen so klar definiert werden wie Umweltinvestitionen

Die EU-Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen habe von Anfang an aus Umwelt- und Sozialaspekten bestanden. Es ist daher entscheidend, klar zu definieren, was eine soziale Investition ist – ähnlich wie dies bereits bei Umweltinvestitionen geschehen sei.

Der Final Report soll die EU-Kommission bei der möglichen Erweiterung des Taxonomie-Rahmens über ökologisch nachhaltige Aktivitäten hinaus beraten. Die EU-Kommission sollte ihrerseits bis Ende 2021 einen Bericht vorlegen, ob und wie die EU-Taxonomie-Verordnung um „andere Nachhaltigkeitsziele, wie soziale Ziele“, erweitert werden soll. Daher ist es möglich, dass die von der Platform erarbeiteten Vorschläge so nicht umgesetzt werden.

Drei Hauptunterschiede zwischen Umwelt- und sozialer Taxonomie

Vorbild für die Soziale Taxonomie ist das Klassifizierungssystem für ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten. Zudem soll sie die nationale Gesetzgebung zu sozialen Fragen der EU-Staaten und Wechselwirkungen mit der Transparenz-Verordnung sowie den Gesetzesinitiativen (CSRD) und (CSDD) berücksichtigen.

Der Abschlussbericht weist auf drei Hauptunterschiede zwischen Umwelt- und sozialer Taxonomie hin, die beachtet werden müssen:

  1. Wirtschaftliche Aktivitäten gehen üblicherweise mit sozialen Komponenten (beispielsweise Schaffung von Arbeitsplätzen) einher, die aber nicht per se der zusätzliche soziale Nutzen der Wirtschaftlichkeit sind. Diesem Verständnis nach wäre die Herstellung von Arzneimitteln nur dann ein „wesentlicher sozialer Beitrag“, wenn das Pharmaunternehmen bspw. die Zugänglichkeit und Erschwinglichkeit bestimmter Medikamente für bestimmte Personengruppen verbesserte.
  2. Während die Grundlagen der Umwelttaxonomie aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleitet werden, kann eine soziale Taxonomie nur auf international vereinbarten maßgeblichen Normen und Prinzipien basieren. Empfohlen werden dazu:
    • die OECD- Guidelines for Multinational Enterprises;
    • das UN Guiding Principles Reporting Framework UNGPs;
    • die Grundprinzipien und Rechte aus den acht Kernübereinkommen, die in der Erklärung der  
    • Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit festgelegt sind;
    • die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte;
    • die europäische Säule sozialer Rechte und
    • die Europäische Sozialcharta.
  3. Für Umweltthemen (insbesondere Klimaschutz) liefere die wissenschaftliche Forschung bereits „hochgradig relevante quantitative Kriterien“. Dagegen gebe es auf dem Gebiet der Quantifizierbarkeit für Soziales erst „vielversprechende Entwicklungen“, die „betrachtet und getestet“ werden müssten. Als Beispiel wird unter anderem das EU „Social Scoreboard“ für die Umsetzung der 20 Prinzipien der europäischen Säule sozialer Rechte genannt.

Unter Berücksichtigung dieser Unterschiede soll die soziale Taxonomie

  1. soziale Ziele entwickeln,
  2. verschiedene Arten von wesentlichen Beiträgen und
  3. die „nicht signifikant schädigend-“ Kriterien („do-not-significant-harm“, DNSH) definieren sowie
  4. Mindeststandards benennen.

Die Notwendigkeit für Mindestumweltschutzmaßnahmen entfällt, wenn die soziale und die ökologische Taxonomie kombiniert werden. Dazu hat die Expertengruppe zwei Vorschläge erarbeitet:

Modell 1:  Stellt jeweils allgemeine Anforderungen für soziale Aktivitäten und an Umweltaktivitäten auf, wobei das jeweils andere Kriterium eine Mindestabsicherung ist. Der Aspekt der Governance geht in Form von sicherheits- und unternehmensbezogenen Sozialklauseln auf der Grundlage des UN Global Compact und der OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen ein.

Modell 2 verknüpft „S“ und „E“ enger: Eine Aktivität muss mindestens eine wesentliche Beitragsvoraussetzung – sozial oder ökologisch – erfüllen. Zusätzlich müssen alle Aktivitäten alle relevanten Umweltanforderungen erfüllen und für alle soziale Faktoren gelten die DNSH-Kriterien.

Die Expertengruppe warnt davor, Unternehmen, die Daten sowohl zu ökologischen als auch zu sozialen Themen bereitstellen müssen, nicht zu überfordern, indem sie mit zwei völlig unterschiedlichen Systemen arbeiten müssten.

Hauptziele und Interessengruppen

Die soziale Taxonomie sollte sich dem Abschlussbericht zufolge auf folgende drei Interessengruppen konzentrieren, deren Leben und Existenzgrundlagen der Investor/das Unternehmen positiv beeinflussen könnte: Arbeitskräfte (einschließlich Arbeiter der Wertschöpfungskette), Endnutzer/Verbraucher und betroffene Gemeinschaften.

Es gibt drei Hauptziele für jeweils eine Interessengruppe

  • menschenwürdige Arbeit (auch für Arbeitnehmer in der Wertschöpfungskette),
  • angemessener Lebensstandard und Wohlbefinden für die Endnutzer,
  • integrative und nachhaltige Gemeinschaften und Gesellschaften.

Die Hauptziele müssen ergänzt werden durch Unterziele wie Gesundheit und Sicherheit, Gesundheitswesen, Wohnen, Löhne, Nichtdiskriminierung, Verbrauchergesundheit und die Lebensgrundlagen der Gemeinschaft.

Innerhalb jedes dieser Ziele gibt es verschiedene Arten von „wesentlichen“ Beiträgen. Substanzielle Beiträge des ersten Typs konzentrieren sich auf die inhärenten sozialen Vorteile der Aktivität selbst. Als Beispiel werden Forschung und Vermarktung von Arzneimitteln für das Pharmaunternehmen genannt.

Substanzielle Beiträge des zweiten Typs fokussieren sich auf Vermeidung sowie die Bewältigung negativer Auswirkungen auf Arbeitnehmer, Verbraucher und Gemeinschaften. Dieser zweite Typ beinhaltet folglich Aspekte wie Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, die Ausbildung von Arbeitnehmern für einen gerechten Übergang bei der Transformation der Wirtschaft, tarifvertraglich vereinbarte Löhne sowie die Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens für den Arbeitnehmer und seine Familie.

Unter den substanziellen Beiträgen vom Typ drei werden „befähigende Aktivitäten“ verstanden. Dabei geht es um Sozialleistungen.

Die DNSH-Kriterien werden mit den Aktivitäten verknüpft. Es gilt: Eine Aktivität trägt zu einem der sozialen Ziele bei und schadet keinem der anderen Ziele. Wo das Kriterium keinen Sinn ergibt, werden Mindestvorkehrungen getroffen, um Inkonsistenzen zu vermeiden. Ein Negativ-Beispiel ist die Anrechnung eines erheblichen Sozialbeitrags für ein Unternehmen, das in einem anderen Bereich gegen soziale und/oder Governance-Prinzipien verstößt.

Bei den sozialen und Governance-bezogenen Mindestsicherungen geht es um obengenannte Schutzgesetze für internationale Arbeitsnormen und Menschenrechte. Diese sind auch Gegenstand des Artikels 18 der Taxonomie-Verordnung. Die Expertengruppe will zu diesem Bereich einen separaten Bericht erstellen.

Im Abschlussbericht wird empfohlen, die Mindestgarantien für die ökologischen und sozialen Taxonomien um zwei Governance-Ziele zu erweitern. Dabei geht es zum einen um die Stärkung von Nachhaltigkeitsaspekten traditioneller Unternehmensführung mit Unterzielen wie der Kompetenz von Nachhaltigkeitsbewertung im höchsten Leitungsorgan und der Transparenz über Nachhaltigkeitsziele und -vorgaben. Zum anderen soll der Corporate-Governance-Aspekt mit Unterzielen, wie Anti-Bestechungs- und Anti-Korruptionsmaßnahmen, verantwortungsvolles Lobbying, politisches Engagement, Diversität im Vorstand etc., erweitert werden.

Die Taxonomie und die Assekuranz

Soziale Kriterien in der Geschäftspolitik oder im Berichtswesen sind für Versicherer nicht Neues – beginnend mit der Integration behinderter Mitarbeiter im eigenen Unternehmen bis hin zu Spenden und Sponsoring. Dies wird in den finanziellen und nicht-finanziellen Berichten dargelegt. Die Angaben sind in der Regel nur bedingt vergleichbar und nicht ausreichend transparent – und oft gibt es Verbesserungspotenzial, wie beispielweise bei den Frauenquoten im oberen Management.

Der Abschlussbericht der Platform on Sustainable Finance weist in diesem Zusammenhang ab Seite 23 auf das Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) hin. Diese versteht Nachhaltigkeitsrisiken allgemein als „Umwelt-, Sozial- oder Governance-Ereignisse oder -Bedingungen, die, wenn sie eintreten, erhebliche negative Auswirkungen auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage oder den Ruf eines beaufsichtigten Unternehmens haben oder haben können“. Das ESG-Risiko gelte mithin nicht als eigene Risikokategorie, könne sich aber auf Geschäftsbereiche und Investitionen in Form des Reputations-, Markt-, Liquiditäts-, Kredit-, Betriebs- und Versicherungsrisikos sowie als regulatorisches Risiko niederschlagen.

Das Management von sozialen Risiken im Underwriting und in der Kapitalanlage ist zurzeit noch herausfordernder als das der ökologischen. Während es für Umweltthemen immer mehr Kennzahlen gibt, die Versicherer zum Screening einsetzen – beispielsweise den CO2-Fußabdruck der Kapitalanlage – ist dies für den sozialen Bereich noch weitgehend unüblich. Ein gängiges Vorgehen ist eher das Screening nach Mindeststandards, wie zum Beispiel die Einhaltung der UN-Global-Compact-Prinzipien. Ein Positiv-Screening bleibt bei einer solchen Vorgehensweise jedoch schwierig. Die soziale Taxonomie könnte hier – gemeinsam mit der CSRD – einen Rahmen für Indikatoren schaffen, die Versicherer in ihre Investitions- und Zeichnungsentscheidungen integrieren können.

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