Nach dem überraschenden Votum der Briten für den Brexit setzten die Baufinanzierungszinsen in Deutschland ihren Abwärtstrend kurzfristig fort. Der Bestzins für zehnjährige Hypothekendarlehen lag Anfang Juli mit 0,79 Prozent auf einem neuen Tiefststand. Gastkommentar von Stephan Gawarecki, Dr. Klein.
Erstmals in der Geschichte der Europäischen Union (EU) möchte ein Land die Union verlassen. Die großen regionalen Unterschiede des britischen EU-Referendums – die Mehrheit der Schotten und Nordiren votierte für den Verbleib des Landes in der EU – wirft die Frage nach der Einigkeit des Königreichs auf.
Phase der Unsicherheit
Premierminister David Cameron trat zurück, die Wortführer der Brexit-Kampagne – Boris Johnson und Nigel Farage – haben sich (vorerst) von der politischen Bühne zurückgezogen und mit Theresa May steht die neue Premierministerin fest.
Sobald sie Artikel 50 des EU-Vertrags aktiviert, beginnt die zweijährige Phase, in welcher über die Austrittmodalitäten und anschließend über das neue rechtliche Verhältnis Großbritanniens zur EU verhandelt wird.
Das umfasst die Verhandlung sämtlicher Handelsverträge mit der EU und Drittstaaten. Wie die rechtliche Ausgestaltung und der Zugang zum Binnenmarkt aussehen werden, ist noch völlig unklar. Da eine Phase der Unsicherheit zu Investitionszurückhaltung führt, drängen EU-Politiker auf den raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Welche Folgen hat der Brexit?
Nachdem das Ergebnis des Referendums feststand, sank das britische Pfund auf den tiefsten Stand seit 30 Jahren. Viele britische Aktien verloren ebenfalls an Wert. Zwei Rating-Agenturen stuften die Bonität des Landes herab, was die Kreditaufnahme Großbritanniens verteuert.
Das britische Wirtschaftswachstum wird sich voraussichtlich abschwächen. Einige Firmen erwägen bereits, das Land zu verlassen. In der Diskussion ist nun, Großbritannien zu einem Steuerparadies zu machen.
Für die EU bedeutet das Votum eine Zäsur. Es gilt, Austrittsbestrebungen weiterer Länder zu verhindern, und die Bürger von den Ideen und Vorteilen der Gemeinschaft zu überzeugen. Der Brexit könnte das Wachstum der Eurozone und der Exportnation Deutschland verringern.
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Chancen für Deutschland
Für Deutschland gibt es aber auch interessante Chancen. So kann beispielsweise der Finanzstandort Frankfurt am Main von der Abwanderung von Teilen der Finanzindustrie profitieren, steht hierbei jedoch in starker Konkurrenz zu anderen Metropolen wie Paris, Dublin und Luxemburg.
Die erwartete zunehmende Arbeitsmigration nach Deutschland, wird die Nachfrage nach Wohnraum verstärken und zu weiteren Preissteigerungen führen. Der Immobilienboom wird zugleich durch die Flucht von Investoren in sichere Anlagen forciert. Die langfristigen Folgen für Großbritannien, Europa und Deutschland sind jedoch kaum absehbar, da noch keine klaren Rahmenbedingungen des Austritts vorliegen.
Wie entwickeln sich die Baufinanzierungszinsen?
Die mit dem Brexit verbundene Unsicherheit sorgt dafür, dass Geld verstärkt in sichere Anlagen investiert wird. Die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen sinkt weiter und folglich gehen die Baufinanzierungszinsen, die bereits auf einem historisch niedrigen Niveau sind, weiter zurück. Darüber hinaus ist kurzfristig keine wesentliche Änderung der EZB-Leitzinspolitik zu erwarten.
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Gründe dafür sind, dass der Brexit die Wirtschaftsentwicklung beeinträchtigt und die Inflationsrate nach wie vor weit unter der angepeilten Zwei-Prozent-Hürde liegt. Eine Zinserhöhung seitens der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) wird erst erwartet, wenn die Folgen des EU-Austritts von Großbritannien besser kalkulierbar sind. Mittel- bis langfristig können daher auch die Baufinanzierungszinsen in Deutschland wieder anziehen.
Die Finanzierungskonditionen für Immobilienkäufer bleiben attraktiv – fraglich ist jedoch, wie lange noch. Stimmen die Rahmenbedingungen, so sollte ein Haus- oder Wohnungserwerb sorgfältig geprüft, aber nicht auf die lange Bank geschoben werden. Denn viel Raum nach unten gibt es bei diesen niedrigen Baufinanzierungszinsen nicht mehr.
Der Autor Stephan Gawarecki ist Vorstandssprecher der Dr. Klein & Co. AG.
Foto: Dr. Klein