Herr Brüß, wie bewerten Sie die EU-Pläne und Diskussionen über ein mögliches Provisionsverbot?
Brüß: Das Ziel der Kleinanlegerstrategie ist aus europäischer Sicht, die Finanzkompetenz der Bevölkerung in der Breite zu verbessern, damit die Menschen einfacher und transparenter an den Kapitalmärkten teilhaben können. Aus Sicht eines Versicherers ist das vom Grundsatz zu unterstützen. Die Frage ist, ob das Provisionsverbot das richtige Mittel ist. Heute schließen die Menschen entweder direkt ab, lassen sich durch einen Berater auf Honorarbasis beraten oder sie gehen zu einem Ausschließlichkeitsvermittler, Mehrfachagenten oder Makler. Diese freie Wahl sollte aus meiner Sicht nicht eingeschränkt werden. In den Märkten, in denen es nur noch Honorarberatung gibt, ist das pro Kopf Volumen an Versicherungsaufwendungen rückläufig. Denn am Ende können oder wollen sich viele Haushalte das Honorar nicht leisten. Das Prinzip der Zillmerung, die Verteilung der Abschlusskosten über die Laufzeit, hat aus meiner Sicht große Vorteile.
Vor dem Hintergrund von Ukraine-Krieg, hoher Inflation, wirtschaftlicher Unsicherheit: Wie entwickelt sich das Geschäft bei der Gothaer 2023?
Brüß: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen können wir nicht vom Tisch wischen. Die hohe Inflation, die gestiegenen Zinsen sowie die wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten halten Kunden davon ab, langfristige Vertragsbeziehungen einzugehen. Das heißt, dass wir als Lebensversicherung in der Produktkalkulation ohne Garantien ein Stück weit unter Druck geraten. Wir stellen zudem fest, dass viele Verbraucher immer noch auf Sicherheit setzen. Das heißt: Ein Mindestmaß an Garantien wird weiter erwartet. In der Lebensversicherung müssen wir zudem zwischen Einmalanlagen und laufenden Beiträgen unterscheiden. Das Einmalbeitragsgeschäft ist rückläufig, weil es am Kapitalmarkt wieder Alternativen gibt. Und man merkt, dass die Vertriebskanäle im Banksektor wieder eigene Produkte in den Fokus nehmen. Ganz anders sieht es in der bAV und in der Biometrie aus. Hier sind wir sehr erfolgreich. Beratung ist dabei der wesentliche Schlüssel. In der Krankenversicherung ist auch als Folge der Corona-Pandemie das Bewusstsein für Absicherung deutlich gestiegen. Insbesondere im Arbeitgeberumfeld kommen noch andere Faktoren hinzu. Das treibt die bKV. Im Kompositbereich spielt der verfügbare Finanzspielraum im Privatkundensegment hingegen ebenfalls eine Rolle. Im Firmenkundensegment haben wir aber ein echtes Momentum.
Könnten Sie kurz skizzieren, warum?
Brüß: Der Preiswettbewerb ist härter geworden. Hinzu kommt: Nicht mehr alle Versicherer zeichnen noch alles. Die Kompetenz und das Risikomanagement sind ebenfalls ein Thema. Zudem verabschieden sich einige kleine Versicherer aus dem Markt, während die größeren auf den Mittelstand fokussierten Versicherer Zuwächse verbuchen. Darüber hinaus führen Sanierungsaktionen bei anderen Gesellschaften zu weiteren Zuflüssen. Auch wenn die Wirtschaftsindikatoren nicht alle positiv aussehen, entwickelt sich das Geschäft bei uns sehr gut.
Überrascht Sie das?
Brüß: Dadurch, dass so viele Faktoren gleichzeitig wirken, im Markt eine gewisse Bereinigung stattfindet und nicht mehr alle alles machen und die Versicherer mit hoher Kompetenz Marktanteile gewinnen, überrascht es mich nicht. Wir sind einer der führenden Partner für den Mittelstand und haben einen guten Ruf im Markt. Man sieht also deutlich, dass Kompetenz ein zentraler Faktor für Wachstum ist.
Die gesetzliche Rente allein reicht für die Altersabsicherung nicht mehr aus, der Garantiezins liegt kurz über der Nulllinie. Vor diesem Hintergrund müssen die Menschen deutlich chancenorientierter anlegen.
Wie groß ist die Bereitschaft der Kunden, sich darauf einzulassen?
Brüß: Wir haben unser Produktangebot bewusst auf zwei Portfoliostrategien ausgerichtet. Ein Trend geht hin zu Produkten mit einer Beitragserhaltgarantie von 80 Prozent. Wir spüren, dass der Sicherheitsaspekt bei vielen Kunden ein wichtiges Kriterium ist. Sie wollen einerseits Rendite und haben verstanden, dass es mit der klassischen Lebensversicherung mit Deckungsstock nicht mehr funktioniert. Wir haben einmal eine Anlage im Sinne eines Zwei-Topf-Hybrids, wo Geld in Indizes hineinfließt, aber immer noch gekoppelt an eine Garantie. Und auf der anderen Seite haben wir fondsgebundene Produkte ohne Garantie. Welches Produkt für welchen Kunden geeignet ist, hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von der Zielgruppe, vom Alter und von der Laufzeit.
Während der Coronapandemie wurde stets betont, dass die Bedeutung und die Bereitschaft, für die eigene Gesundheit Geld in die Hand zu nehmen, steigt. Hemmen die wirtschaftlichen Unsicherheiten und die nach wie vor hohen Inflationsraten die Bereitschaft, die Arbeitskraft finanziell abzusichern?
Brüß: Für uns ist das Thema absolut en Vogue. Wir haben gerade eine neuen SBU eingeführt. Und spüren hier ein großes Interesse des Vertriebes. Das Feedback von Maklern ist sehr gut.
Wobei es schwierig ist, beim Thema Berufsunfähigkeitsversicherung noch neue Akzente zu setzen.
Brüß: Auf der Leistungsebene gibt es kaum noch Differenzierungsmöglichkeiten. Das heißt, es geht immer stärker auf die Preisebene. Mit unserer neuen SBU haben wir ein sehr wettbewerbsfähiges Produkt, was das Preis-Leistungsverhältnis betrifft. Und wir haben einige neue Features entwickeln können. Etwa eine verkürzte, erleichterte Gesundheitsprüfung oder die Lebensphasen-Optionen, mit Möglichkeiten zur Erhöhung der BU-Rente. Aus meiner Sicht ist es das Optimum, früh gesund einzusteigen und dann ein zu Produkt haben, das mit mir altert und sich an meine Biografie anpassen lässt. Die Work-Life-Option ist einer der Gründe, warum das Produkt gut ankommt. Ein weiterer Pluspunkt: Für die Phase zwischen Eintritt der BU und der Anerkennung zahlen wir ein Überbrückungsgeld. Kommt ein Gutachten zum Schluss, dass eine Berufsunfähigkeit nicht vorliegt, muss das Geld nicht zurückgezahlt werden. Das ist im Markt nicht einheitlich geregelt. Die Zahlen aus den ersten Wochen nach Einführung des Produkts zeigen sehr deutlich: Der BU-Markt ist nicht tot.
Andererseits gibt es viele Handwerker, die bräuchten dringend eine BU und bekommen keine.
Brüß: In der Tat stehen zu viele Handwerker ohne Absicherung da. Für sie ist die Grundfähigkeitsversicherung eine gute Lösung. Das Thema Grundfähigkeit lässt sich im Beratungsgespräch sehr gut erklären: Man sichert sich ab für den Fall, dass man nicht mehr gehen, stehen, tragen, Treppen steigen, oder radfahren kann – das lässt sich sehr einfach transportieren. Wir halten das Produkt bei den körperlich tätigen Berufen für eine gute Alternative, die eben auch bezahlbar ist. Das ist bei einer Erwerbsunfähigkeitsversicherung deutlich schwieriger. Und diese Lösung eignet sich übrigens auch für die Zielgruppe Kinder sehr gut. Denn dort sprechen wir noch gar nicht über Berufsunfähigkeit – sondern über die Fähigkeit, das Leben weiter gestalten zu können.
Stichwort Gesundheit. Haben die wirtschaftlichen Unsicherheiten Auswirkungen auf das bKV-Geschäft?
Brüß: Nein. Wir sehen dort weiterhin zweistellige Wachstumsraten. Es ist noch ein junger Markt. Wir spüren aber, dass das Thema auf der Vermittlerebene in die Breite geht. Und wir stellen fest, dass es auf der Arbeitgeberseite sehr gern genutzt wird, um sich vom Wettbewerb abzuheben. Hinzu kommt es, dass die bKV für Arbeitnehmer erlebbarer ist als die bAV. Der Arbeitnehmer bekommt – insbesondere bei den Budgettarifen – klar vor Augen geführt: Mein Arbeitgeber tut etwas für mich. Das ist ein sehr starkes Argument und schafft einen starken Bezug zum Arbeitgeber. Selbst im Niedriglohnsektor spüren wir, das Interesse da ist.
Sie sagten gerade, dass es in die Breite geht. Wir wissen aber aus Gesprächen, dass es immer noch und vorrangig die spezialisierten Vermittler und Vertriebe sind, die hier erfolgreich sind.
Brüß: Jeder Vermittler, der Kontakt zu Firmenkunden hat, kann mit der bKV ins Firmengeschäft einsteigen. Das Thema bKV ist nicht so komplex wie die bAV. Aber man muss die Vermittler an das Thema heranführen und die Angst davor nehmen. Da braucht es schon gute Beratungskonzepte und Zugangshilfen. Wir versuchen, unsere Vermittler in die Lage zu versetzen, über beides zu sprechen und dem Arbeitgeber deutlich zu machen: Wir bauen Dir ein Versorgungswerk. Und das kann aus unterschiedlichen Bausteinen bestehen. Je nachdem, was er investieren will und was für das Unternehmen sinnvoll ist. Das können Kombinationen sein aus einer betrieblichen Unfallversicherung, einer betrieblichen Altersvorsorge, aus einer kollektiven SBU und einer bKV. Das Ganze in einem Versorgungswerk zu bündeln und dem Arbeitgeber damit die Gelegenheit zu geben, sich als sozialer Partner nachhaltig zu positionieren, das ist unser Beratungsansatz.
Apropos nachhaltiger Beratungsansatz. Mittlerweile müssen die Präferenzen hinsichtlich Nachhaltigkeit bei Kunden abgefragt werden. Wie ist die Resonanz?
Brüß: Kein Kunde schließt eine Lebensversicherung nur wegen des Nachhaltigkeitsaspektes ab. Bei vielen Kunden stehen andere Aspekte im Vordergrund. Sie wollen zunächst einmal Sicherheit und Rendite. Und wenn es dann noch nachhaltig ist, ist es gut. Aber wenn ich den Beratungsprozess sehe, in den wir ja auch regulatorisch gepresst wurden, sind das nicht die Prioritäten, mit denen ein Kunde auf das Produkt schaut und wie er beraten werden möchte.
Wie schulen Sie ihre Vertriebspartner?
Brüß: Wir haben zertifizierte Weiterbildungen für unsere Berater. Sie können sich zum Nachhaltigkeitsberater gemäß ISO 26000 mit TÜV-Prüfung weiterbilden lassen. Oder zum Experten für Nachhaltige Versicherungen und Finanzen mit der Deutschen Versicherungsakademie. Das steht dann auch auf der Visitenkarte. Das sind schon wichtige Dinge, die dem Kunden das Gefühl geben, dass er in guten Händen ist. Die Berater, die sich hier qualifizieren, haben damit einen klaren Wettbewerbsvorteil. Dennoch machen es nicht alle.
Wie nachhaltig ist Ihr Produktangebot inzwischen?
Brüß: Das Thema ist uns sehr wichtig, weil es mit glaubhaftem Handeln als Gesellschaft zu tun hat. Alle unsere großen Standorte sind CO2-neutral. Unsere Dienstwagenflotte wird sukzessive auf Elektromobilität umgestellt. Der wesentliche Hebel ist aber die Kapitalanlage. Bis 2050 sollen unsere Kapitalanlagen CO2-neutral sein. Zudem hinterlegen wir bei allen neuen Produkten eine Nachhaltigkeitskomponente. Das ist bei einigen Produkten einfacher, bei anderen etwas herausfordernder. Die Altersvorsorge – privat und betrieblich – ist sehr nachhaltig ausgelegt. Bei jedem Produkt besteht die Möglichkeit, in nachhaltige Indizes zu investieren. Mindestens nach Art. 8. Und dort entscheiden sich inzwischen 76 Prozent für diese Produkte. Bei der neuen fondsgebundene SBU besteht die Möglichkeit, auch Art. 9-Fonds zu wählen. Und wir arbeiten daran, unserer Sicherungsvermögen auf Art. 8 zertifizieren zu lassen. Schauen wir auf das Produktangebot in der Krankenversicherung sind es gerade die bKV-Produkte, die stark auf Nachhaltigkeit einzahlen. Und auch Komposit-Firmenkundensegment tun wir sehr viel. So begleiten wir etwa Firmenkunden, ihr Unternehmen und ihre Produktionsprozesse nachhaltiger auszurichten.
Wie muss ich mir die Unterstützung konkret vorstellen?
Brüß: Wir haben uns als Ziel gesetzt, unsere Firmenkunden dabei zu unterstützten, ihren CO2-Fußabdruck zu verringern. Eines der ersten, das wir dabei begleitet haben, Unternehmen war ein Messerproduzent aus dem Solinger Raum, also energieintensive Eisen- und Stahlverhüttung. Das Unternehmen wollte sich nachhaltig ausrichten, fand aber keine Energieberater. Wir haben einen zertifizierten Energieberater in das Unternehmen geschickt. Spannend ist, dass die Hochöfen eine wahnsinnige Energie- und Hitze produzieren, die sich sehr gut nutzen lässt. Das in Kombination mit Photovoltaik und Elektromobilität für die Firmenflotte ist ein sehr gutes Beispiel, wie man genau in solch einem Segment Hilfe bieten kann. In dem Zusammenhang haben wir mit www.econize.de eine Plattform geschaffen, auf der Unternehmen unentgeltlich eine rund 30-minütige Energieberatung vereinbaren können. Die Plattform vermittelt Energieberater, die sich mit dem jeweiligen Geschäftsmodell gut auskennen. Und unterstützt auch bei der Suche nach Fördermöglichkeiten. Teilweise gibt es Förderquoten von bis zu 80 Prozent. Das rechnet sich.
Wie wird es nachgefragt?
Brüß: Es ist ein Thema, das man aktiv kommunizieren und beraten muss. Wir geben das unseren Vertriebspartnerinnen und Vertriebspartnern in allen Vertriebsorganisationen mit auf den Weg. Und viele nutzen es auch, um Firmenkunden anzusprechen. Nach der ersten Verwunderung, dass eine Versicherung sich dieses Themas annimmt, wächst das Interesse und dann folgt die Beratung. Am Ende kommt ein Konzept heraus, dass auch mit größeren Investitionen verbunden sein kann. Insofern macht es nicht jeder. Aber damit kann man viel in Rollen bringen.
Infolge der massiven Inflation und den damit verbundenen Preissteigerungen dürften die Versicherungssummen bei vielen Verträgen etwa für Maschinen oder Gebäude nicht mehr passen. Wie sehr drückt es hier?
Brüß: Es ist ein Riesenthema. Allein im Schadenbereich fressen sich Inflation, Lieferengpässe, gestiegene Handwerkskosten und die gestiegenen Materialpreise massiv in die Bücher. Insofern ist es für uns als Versicherer schon sehr wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Wir haben viele Verträge an die Entwicklung von Indizes gekoppelt. Damit erfolgen automatisch Anpassungen. In der Betriebshaftpflicht haben wir umsatzabhängige Policen. Wenn ein Unternehmen durch den Ukraine-Krieg Umsatzrückgange verzeichnet, spüren wir das natürlich auch. Wichtig ist an der Stelle zudem der regelmäßige Austausch mit dem Firmenkunden. Wir schicken einmal im Jahr einen Jahresmeldebogen, in dem Veränderungen im Geschäftsbetrieb festgehalten werden. Das ist ein Anlass für ein Gespräch. Und das muss aus meiner Sicht mindestens einmal jährlich stattfinden, wenn der Vermittler nicht in die Beratungshaftung kommen will, gerade im Firmenkundenbereich. Damit ist sichergestellt, dass der Kunde nicht in Risiken hineinläuft oder er bewusst Risiken ausschließt. Das Beratungsprotokoll ist hier also sehr wichtig.
Und dort sollte dann ja auch das Thema Cybersicherheit abgefragt werden.
Brüß: In der Tat. Wenn wir fragen, welches für Gewerbekunden die größten Risiken sind, steht seit fünf Jahren das Thema Cybersicherheit ganz oben. Allerdings sieht es bei der realen Absicherung anders aus. Gerade einmal rund 20 Prozent haben eine Cyberversicherung. Spannend ist, dass sich jede dritte Firma hier gut aufgestellt sieht. Die Firmen überschätzen ihre eigenen Sicherheitssituation. Aber auch für die Versicherer ist das Thema herausfordernd. Es gibt Versicherer, die dieses Risiko nicht abdecken wollen, auch weil der Markt für Rückversicherungen beim Thema Cyberabsicherung enger geworden ist. Hinzu kommt die Beratungskompetenz. Wenn Sie ein Unternehmen richtig beraten wollen – wo es steht, was es tun muss, damit es richtig versichert ist – braucht es eine hohe Cyberkompetenz. Und diese Experten sind rar. Und dann braucht es auch Vermittler, die sich die notwendige Expertise aneignen und nicht nach der dritten Frage des Kunden aussteigen. Es ist aber eben auch ein großer Wachstumsmarkt mit viel Potenzial. Die Mühe lohnt sich also.