Die Reduzierung von Kosten gehört zu den Daueraufgaben von Unternehmen – nach der Coronakrise wird sie in vielen Konzernen vermutlich wieder zur Hauptaufgabe. Doch hastiger Aktionismus nach alten Rezepten hilft wenig und gefährdet möglicherweise sogar die Zukunft von Unternehmen. Gastbeitrag von Thorsten Beckmann, achtung!
Um Kosten zu senken, versuchen Unternehmenslenker meist zuerst, unproduktive Ausgaben zu identifizieren und zu reduzieren. Oft versuchen sie auch, ihre Prozesse zu rationalisieren – etwa durch eine zunehmende Standardisierung. Mit innovativen Technologien können sie die Automatisierung vorantreiben und die Produktivität erhöhen – Stichwort Industrie 4.0. Sie lagern häufig auch Prozesse an Dienstleister aus oder nutzen Kostenvorteile durch eine Produktion in Schwellenländern. Das waren zumindest die typischen, bislang gängigsten Optionen vor der Coronakrise.
Aber führen diese Maßnahmen auch in Zeitalter der Digitalisierung noch langfristig zu einem Wettbewerbsvorteil? Hier dürfen sich Unternehmenslenker nicht von alten Erfolgsrezepten blenden lassen. In der Regel sind die typischen Gründe für Kostensenkungen eine nachlassende Nachfrage und ein härterer Wettbewerb – beide Faktoren spielen während und nach der Coronakrise sicherlich eine entscheidende Rolle. Die Kostenstruktur zu überarbeiten und sich gleichzeitig gegen stärkeren Wettbewerb zu verteidigen, führt aber oft zu einem Zielkonflikt. Tatsächlich kann eine Konzentration auf kurzfristig mögliche Kosteneinsparungen die Wettbewerbsvorteile von Unternehmen sogar schmälern. Das lässt sich häufig bei Innovatoren beobachten, die ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung reduzieren. Oder bei Marken, die weniger für Marketing ausgeben. Diese Unternehmen sind dann langfristig meist weniger in der Lage, gesunde Gewinne zu erzielen.
Klassisches Beispiel: Kodak. Der US-Konzern, einst Weltmarktführer bei Fotoapparaten und -filmen, hatte bereits 1975 die erste Digitalkamera hervorgebracht, meldete aber 2012 Insolvenz an. Der Grund: Kodak hatte – anders als Mitbewerber – jahrelang nicht in Innovationen investiert und marktfähige Produkte für die Digitalfotografie entwickelt. Der Vorstand hatte diesen Kurs eingeschlagen, um Kosten zu reduzieren. Das Unternehmen verlor jedoch technologisch den Anschluss.
Digitalisierung treibt “Reshoring” voran
Aber Vorsicht: Auch eine Erhöhung der Produktivität durch technische Innovationen verspricht heutzutage nicht automatisch nachhaltigen Erfolg. In der Regel finden Unternehmen mit effizienzsteigernden Prozessinnovationen schnell Nachahmer. Die Margenvorteile der “Early Mover” verschwinden dann im Wettbewerb mit den Nachzüglern wieder. Prozessinnovationen stellen letztlich keine neuen, innovativen Geschäftsmodelle oder zumindest Geschäftserweiterungen dar. Sie können daher nicht als langfristiges Mittel zur Kostenreduktion oder als nachhaltiger Treiber des Gewinnwachstums herhalten. Kurzfristig ja, langfristig nicht.
Nahezu ausgereizt scheint auch die in den vergangenen Jahrzehnten bei international aufgestellten Konzerne wohl populärste Strategie zur Kostensenkung zu sein: Offshoring. Lange Zeit profitierten unzählige Unternehmen von den Vorteilen der Globalisierung, nämlich günstigeren Löhnen und geringeren Materialkosten in Schwellenländern. Jetzt, wo nahezu alle produzierenden Konzerne in Fernost oder in anderen Wachstumsländern fertigen, hat die Globalisierung als Gewinntreiber an Bedeutung verloren, zumal auch in den aufstrebenden Ländern mit zunehmendem Wohlstand die Kosten für Rohstoffe und Löhne steigen. Digitalisierung und Automatisierung treiben sogar das “Reshoring” voran: Je mehr Roboter ein Unternehmen einsetzt, desto eher holt es die Produktion wieder in die Heimat zurück.
Doch Industrie 4.0 im Sinne einer Prozessoptimierung durch Automation und Digitalisierung schafft nur begrenzt neue Geschäftsmodelle mit signifikanten Kosten- und Wettbewerbsvorteilen. Erst die Ergänzung digitaler Technologien durch große, möglichst einzigartige Datensätze führt zu einer erheblichen Ausweitung der Produktivitätsvorteile von Automatisierungsvorgängen – und verschafft Big-Data-Pionieren immense Wettbewerbsvorteile.
Zur Kostenreduzierung können datenbasierte Digitalisierungsstrategien im Wesentlichen auf zwei Arten beitragen: Zum einen können Unternehmen mehr operative Aufgaben an ihre Kunden delegieren – etwa direkt an der Kundenschnittstelle, wie es bei Check-in-Automaten an Flughäfen oder in Online-Kundenportalen von Versorgern bereits längst geschieht. Das spart in erster Linie Personalkosten. Zum anderen ergeben sich aus einer optimalen Nutzung von Daten, etwa über entsprechende Analysen oder gar Echtzeitüberwachungen, für viele Unternehmen erhebliche Effizienzverbesserungen – etwa für die Ressourcenplanung, die Produktion, die Wartung von Maschinen oder kurzfristige Reaktionen auf unerwartete Nachfragemuster. So lassen sich vorhandene Geschäftsmodelle mit Daten verbessern und erweitern.
Beispiele dafür sind computergestützte Fertigungslösungen, die in der Produktion bei der Fehler- und Störungsvermeidung helfen. So können etwa 3D-Profilsensoren, die permanent Daten erfassen, bis zu 99,99 Prozent der Defekte bei industriellen Schweißarbeiten identifizieren und somit beispielsweise im Fahrzeugbau die Herstellungskosten reduzieren. Mit datenbasierten Digitalisierungslösungen wiederum können Schiffsmotorenhersteller Fehlfunktionen von kritischen Komponenten aus der Ferne diagnostizieren und somit im weltweiten Frachtverkehr mit einer vorausschauenden Wartung Kosten und Risiken minimieren.
Aus Daten einen wertvollen Schatz machen
Der Königsdisziplin ist jedoch die Neukonzeption von datenbasierten Geschäftsmodellen. Erst das passende Geschäftsmodell macht aus erfassten Daten einen wertvollen Schatz, der völlig neue Möglichkeiten der Wertschöpfung bietet. Ein Beispiel dafür ist eine besonders in den USA beliebte Plattform, mit der Landwirte ihre komplette Landwirtschaft mit allen Daten zu den eingesetzten Maschinen, dem Wetter und der Bodenbeschaffenheit überwachen können. Die datenbasierten Auswertungen des Systems helfen Landwirten, effizienter zu arbeiten und optimalere Entscheidungen zu treffen.
Unternehmen, die Big Data klug nutzen, reduzieren damit gleich in mehreren Bereichen Kosten, Risiken und Unwägbarkeiten – so nachhaltig und umfassend effektiv war bislang vermutlich keine der traditionellen Maßnahmen zur Kostenreduzierung. Für Entscheider ist es daher wichtig, nicht nach alten Mustern zu denken und den Einsatz datenbasierter Digitalisierungslösungen zumindest zu prüfen. Vor allem in Geschäftsbereichen, in denen mit Big Data-Strategien erhebliche Wettbewerbsvorteile oder gar neue Chancen der attraktiven Wertschöpfung möglich erscheinen, sollten diese Strategien vor weniger nachhaltigen Optionen der Kostensenkung Vorrang haben. Wer hier jetzt neue Wege einschlägt, kann gestärkt aus der Coronakrise hervorgehen.
Autor Thorsten Beckmann ist Geschäftsführer der internationalen Kommunikationsagentur achtung!