Der neue britische Premierminister, der von einer überwältigenden Mehrheit der regierenden Konservativen des Landes gewählt wurde, machte in den Wochen vor der gestrigen Parteiabstimmung nur wenige konkrete Zusagen. Das beinahe einzige Versprechen, an dem Boris Johnson festhält, ist die Zusage, dass das Vereinigte Königreich die Europäische Union am 31. Oktober verlassen wird, „komme, was wolle – friss oder stirb“. Ein Kommentar von Cyrique Bourbon ist Asset Allocation Strategist bei unserem Partnerinstitut Brown Shipley in London.
„Wenn wir das EU-System verlassen, entledigen wir uns einer Vielzahl unnötiger Regulierungen, die dieses Land im Klammergriff hält“, so Johnson. „Zukünftig werden wir in der Lage sein, unsere eigenen Prioritäten zu setzen, unsere eigenen Gesetze zu verabschieden und eine eigene Steuergesetzgebung zu erlassen, die den Bedürfnissen dieses Landes gerecht wird.“
Unklar, was Johnson nun genau plant
Da das Parlament sich am Freitag in die sechswöchige Sommerpause verabschiedet, verbleiben dem neuen Premierminister nur zwei Monate, um einen Austritt aus der EU zu verhandeln – und das bei einer nur hauchdünnen Mehrheit, die seinen Plan unterstützt. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass das Parlament scheinbar entschlossen gegen einen „No-Deal-Brexit“ steht. Johnson selbst sagte neulich, dass die Chancen für ein solches Szenario „eine Million zu eins“ stünden.
Da die EU bereits wiederholt deutlich gemacht hat, dass sie nicht willens ist, Theresa Mays Austrittsabkommen neu zu verhandeln – ein Vorschlag, den das Parlament bereits dreimal abgelehnt hat –, ist unklar, wie genau Johnson beabsichtigt, sein Land erfolgreich aus Europa zu führen.
Andererseits ist Alexander Boris de Pfeffel Johnson, der 1964 in New York geboren wurde und in Oxford studiert hat, dafür bekannt, seinen Skeptikern die Stirn zu bieten. Wie er 2004 selbst sagte: „Meine Chancen, Premierminister zu werden, stehen in etwa so gut, wie Elvis auf dem Mars zu finden oder dass ich als Olivenbaum wiedergeboren werde.“
Abwahl bei nächster Gelegenheit
Der Urenkel eines türkischen Journalisten begann seine Karriere als Korrespondent in Brüssel beim Daily Telegraph, und war bekannt dafür, kräftig gegen die EU auszuteilen. Später wurde er Redakteur beim Spectator, war für zwei relativ unspektakuläre Amtszeiten Bürgermeister von London und hatte zuletzt kurzzeitig den Posten des britischen Außenministers inne.
2016, bevor er zu einem der lautstärksten Befürworter für den Ausstieg aus der EU wurde, schrieb Johnson zwei Kolumnen, in denen er das Für und Wider eines EU-Referendums gegenüberstellte. Tatsächlich erwies sich Johnson, trotz der schlechten Chancen und der ungünstigen Umstände, als Stehaufmännchen.
Doch obwohl er vermutlich eher in der Lage sein wird, seine Partei mehr zu einen als seine Vorgänger, steht mit ziemlicher Sicherheit fest, dass er eines nicht überleben wird: die Parlamentswahlen.
Deal wahrscheinlicher als No-Deal
Nichtsdestotrotz scheint dies das wahrscheinlichste Szenario zu sein, besonders wenn die Konservativen, die für einen Verbleib in der EU sind, sich dafür entscheiden sollten, dass der Sturz der Regierung eine annehmbarere Option ist als ein No-Deal-Brexit. In einem solchen Szenario würde die Labour-Partei voraussichtlich wieder durch eine Koalition an die Macht kommen und eventuell ein zweites Brexit-Referendum fordern.
Daher scheint ein wie auch immer gearteter Deal, der eine Einigung über die Frage der irischen Grenze beinhalten müsste, wahrscheinlicher als überhaupt kein Deal. Die Wettbüros sehen das Risiko für einen No-Deal-Brexit bei weniger als 20 Prozent – doch damit liegt das Risiko immer noch höher als beim ursprünglichen Referendum im Juni 2016.
Dies alles bedeutet, dass das Vereinigte Königreich, trotz eines neuen Gesichts in Downing Street Number 10, ein weiterer Sommer voller Unsicherheiten bevorsteht. Und diese Unsicherheit wird weiterhin auf der Wirtschaft des Landes lasten.
Anleger müssen sich sorgen
In einem am Montag veröffentlichten Bericht warnte das UK National Institute of Economics and Social Research, dass das Wachstum in Großbritannien bereits zum Stillstand gekommen sei und dass das Land mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent bereits in einer technischen Rezession stecke.
„Die Aussichten für die Zeit nach Oktober sind tatsächlich sehr düster“, schrieb das unabhängige Forschungsinstitut, „und es könnte im Falle eines ungeordneten No-Deal-Brexits zu einem heftigen Konjunkturabschwung kommen.“
Anleger in Europa, insbesondere die, die sich Sorgen machen, dass es zu einem Spillover-Effekt kommen könnte, sollten sich vergegenwärtigen, dass das Vereinigte Königreich nur 2 Prozent des globalen BIP repräsentiert.
75 der Gewinne werden im Ausland erzielt
Obwohl das Land mit weitaus bedeutenderen 16 Prozent zum EU-BIP und mit mehr als einem Viertel zum MSCI Europe Index beiträgt, hätte selbst ein No-Deal-Brexit wahrscheinlich nur geringe negative Auswirkungen auf europäische Aktien. Auch die Auswirkungen auf die europäischen Kreditmärkte würden sich in Grenzen halten.
Man sollte jedoch ebenfalls nicht vergessen, dass die britischen Kapitalmärkte in hohem Maße international ausgerichtet sind, da etwa 75 Prozent der Verkäufe und Gewinne im Ausland erzielt werden. Mehr als die Hälfte des gesamten Umsatzvolumens entfällt auf die USA, Asien und die Schwellenländer.
Auch wenn außer Frage steht, dass eine strauchelnde britische Wirtschaft einem stagnierenden Europa keine Hilfe sein wird, so wird das Vereinigte Königreich selbst am schwersten unter den Auswirkungen der weiter andauernden Unsicherheiten um den Brexit zu leiden haben – und unter Umständen auch der neu gewählte Premierminister.
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