Weihnachten naht und der Streit zwischen Großbritannien und der Europäischen Union (EU) droht im dritten Jahr in Folge die Adventszeit zu überschatten. Der Grund ist – mit Abwandlungen – immer der Gleiche: der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. 2019 zitterten sich die Beteiligten zum Austrittsvertag, 2020 war es der Handelsvertrag, dieses Jahr geht es um das Nordirland-Protokoll. Und: Eine nachhaltige politische Lösung der Brexit-Spannungen scheint noch in weiter Ferne. Zu unterschiedlich sind die Interessen dies- und jenseits des Ärmelkanals. Und nicht nur das: Auch in Großbritannien selbst überschlagen sich vor dem Jahreswechsel (mal wieder) die Ereignisse.
Nordirland-Protokoll als zentraler Knackpunkt
Aber der Reihe nach: Der Konflikt zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU um das Nordirland-Protokoll schwelt bereits länger. Um eine harte Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden, gelten in Nordirland weiterhin die Regelungen der Europäischen Zollunion sowie die EU-Standards für landwirtschaftliche und industrielle Güter. Waren, die von den anderen Landesteilen Großbritanniens importiert werden, müssen in Nordirland kontrolliert werden. Das kommt einer Zollgrenze in der Irischen See gleich.
Großbritannien weigert sich allerdings, das Nordirland-Protokoll in seiner jetzigen Form zu implementieren. Stattdessen fordert die Regierung Johnson fundamentale Änderungen, vor allem die Einführung des Vertrauensgrundsatzes bei Warenkontrollen und den Wegfall der Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bei der Durchsetzung des Protokolls. Die EU lehnt solch weitreichende Änderungen ab und legte ihrerseits Vorschläge für eine flexiblere Implementierung des Protokolls vor. Trotz des Entgegenkommens der Staatengemeinschaft hat Großbritannien bereits signalisiert, dass die europäischen Zugeständnisse nicht weit genug gingen. Vor allem bleibt die Rolle des EuGH von den Brüsseler Vorschlägen unangetastet. Seit 15. Oktober wird wieder verhandelt mit dem Ziel, sich bis zum Jahresende zu einigen.
Klar ist der unberechenbare Zick-Zack-Kurs von Johnson
Seit Sommer hat Großbritannien im Streit mit der EU immer lauter mit der Aktivierung von Artikel 16 gedroht. Diese Passage des Nordirland-Protokolls sieht vor, dass beide Vertragsparteien Teile des Protokolls einseitig aussetzen können, sofern deren Anwendung zu schwerwiegenden und voraussichtlich anhaltenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder ökologischen Schwierigkeiten führt.
Das Vereinigte Königreich stellte eine Einigung in den aktuellen Gesprächen zunächst unter den Vorbehalt, dass das Nordirland-Protokoll neu verhandelt und der Europäische Gerichtshof als Streitschlichter gestrichen wird. Die EU hat das immer mit dem Argument zurückgewiesen, dass Nordirland nur dann am Binnenmarkt teilnehmen könne, wenn dort die gleichen Rechtsvorschriften wie in allen Mitgliedsländern gelten.
Gleichzeitig hat die EU ihrerseits klar gemacht, dass sie auf die Aktivierung von Artikel 16 mit deutlichen Gegenmaßnahmen reagieren würde. Dabei stünden der Staatengemeinschaft mehrere Möglichkeiten zur Verfügung: Sie könnte das Vertragsverletzungsverfahren wieder aufnehmen, das sie Anfang 2021 eingeleitet hatte, nachdem die Briten einseitig Übergangsregelungen verlängert hatten. Außerdem könnten ausführlichere Kontrollen britischer Transporte in EU-Häfen stattfinden oder als Ultima Ratio Vergeltungszölle auf britische Waren erhoben werden.
Doch nun zeichnet sich eine überraschende Kehrtwende Londons ab: Medienberichten zufolge hat Boris Johnson seinem Verhandlungsführer, David Frost, die klare Devise mit auf den Weg nach Brüssel gegeben, eine Lösung mit der EU zu suchen.
Mal wieder reibt sich der Beobachter der Londoner Szenerie die Augen und fragt sich nach den Motiven für diese Kehrtwende. Erneut wird man in der britischen Innenpolitik fündig. Denn Boris Johnson steht zu Hause unter massivem Druck: Nicht nur kommen aus der Wirtschaft massive Vorwürfe gegen ihn. Auch ein Parlamentsbericht kritisiert die Corona-Politik der Regierung. Und aufgrund seines umstrittenen Umgangs mit den Nebenverdiensten von Parlamentariern steht er mittlerweile auch in seiner eigenen Partei unter Beschuss. All das schadet Johnsons Ansehen in der Bevölkerung und lastet auf den Umfragen.
Das Letzte, was der Premier jetzt noch braucht, ist ein vom Brexit überschattetes Weihnachtsfest. Es ist mittlerweile zwei Jahre her, dass Johnson mit dem Slogan „Let’s get Brexit done!“ die Unterhauswahl haushoch gewonnen hat. Ein weiteres Kapitel in der schier endlos erscheinenden Brexit-Saga würden ihm die Wählerinnen und Wähler nur schwerlich verzeihen.
Die große Frage ist nun, was diese Kehrtwende für die Verhandlungen bedeutet? Wie ernsthaft ist Boris Johnson an einer Lösung interessiert oder anders ausgedrückt, welche Kompromisse würde er in den Verhandlungen mit der EU in Kauf nehmen? Und welche Rolle spielt Artikel 16? Ist die Aktivierung vom Tisch oder sieht sie der Premierminister jetzt womöglich erst recht als zielführendes Druckmittel an?
Wie in den vergangenen beiden Jahren bleiben auch dieses Mal wieder etliche Fragen offen. Klar sind zwei Dinge: Erstens werden in spieltheoretischer Hinsicht beide Seiten in den kommenden Wochen versuchen, in den Verhandlungen das Bestmögliche für sich herauszuholen. Und zweitens wird die politische Unsicherheit weiter anhalten.
Britische Wirtschaft mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert
Die politische Unsicherheit lastet auf der britischen Volkswirtschaft und auf der Währung. Union Investment geht nach Brexit und Pandemie zwar von Aufholeffekten bei der britischen Investitionstätigkeit aus. Allerdings sollten diese kleiner ausfallen, als noch im Sommer angenommen.
Nach einer starken Aufholbewegung im Frühjahr diesen Jahres hat die Konjunktur über den Sommer hinweg an Dynamik eingebüßt. Unseren Prognosen zufolge sollte die britische Wertschöpfung erst im zweiten Quartal 2022 an das Vorkrisen-Niveau anschließen können. Unter den großen Volkswirtschaften der Erde ist Großbritannien damit ein Nachzügler.
Neben dem politischen Konflikt mit der EU ist die britische Volkswirtschaft mit weiteren Herausforderungen konfrontiert: Zur Entwicklung der Pandemie kommt vor allem die Lieferkettenproblematik, von der Großbritannien noch stärker getroffen wird als der Rest Europas. Leere Supermarktregale, Treibstoffmangel, Hamsterkäufe: Derzeit lässt sich zwar kaum beziffern, welchen Anteil daran die Pandemie und welchen der Brexit hat. Dass der EU-Austritt die Situation aber verschlimmert, zeigen etwa die unbesetzten Lenkräder britischer LKWs.
Mit dieser Gemengelage verschiedener Einflussfaktoren sehen sich nun nicht nur Volkswirte, sondern auch Notenbanker konfrontiert. Wie umgehen mit volkswirtschaftlichen Risiken auf der einen und deutlich steigenden Inflationsraten auf der anderen Seite? Wie beschrieben leidet die britische Wirtschaft im Wesentlichen unter Angebotsproblemen. Selbst mit den expansivsten geldpolitischen Instrumenten ist die Bank of England (BoE) daher naturgemäß nicht imstande, die Führerhäuser der LKWs zu besetzen.
Dennoch dürfte sie die erste große Notenbank sein, die an der Zinsschraube drehen wird. Zu groß ist die Sorge vor einem unkontrollierten Anstieg der Teuerungsraten. Vor dem Hintergrund der jüngsten Inflationsdaten und eines anhaltend prosperierenden Arbeitsmarkts verdichten sich die Anzeichen, dass ein Zinsschritt bereits im Dezember erfolgen könnte. Wir rechnen spätestens im Februar mit einer ersten Zinsanhebung der BoE.
Alle Jahre wieder: Wie 2019 und 2020 ist die Lage in Großbritannien auch jetzt wieder komplex. Sowohl aus volkswirtschaftlicher als auch aus Kapitalmarktsicht sind eine fundierte Analyse und Augenmaß gefragt. Beides ist auch den politischen Verantwortlichen bei den Verhandlungen zu wünschen, um die Weihnachtsgans beim britischen Festmahl nicht zu gefährden.
Autor Marco Weber ist Volkswirt bei Union Investment.