Bürgerversicherung: Ungelöste Probleme

Ein Gutachten im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung bringt die Bürgerversicherung wieder ins Gespräch. Das Modell gibt vor, das Solidarprinzip zu stärken – allerdings bleiben die großen Probleme des Umlagesystems nach wie vor ungelöst. Ein Kommentar von Dr. Jochen Pimpertz,
Leiter des Kompetenzfelds Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW).

Neues Label, alte Leier: Mit der Studie „integrativen Sozialversicherung für Gesundheit und Pflege“ bringt die Bertelsmann-Stiftung keine neue Idee in den Diskurs um das deutsche Krankenkassensystems, sondern wirbt erneut für die Bürgerversicherung. Die damit verbundenen Fragen bleiben unbeantwortet.

Würden diejenigen, die bisher privat versichert sind, in das umlagefinanzierte System integriert werden, würde sich der Beitragssatz für die Kranken- und Pflegeversicherungen um bis zu 0,7 Prozentpunkte senken. Das wäre ein überschaubarer Effekt – zumal Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich den Beitrag teilen würden. Die Entlastung schrumpft sogar auf nur noch 0,2 Prozentpunkte, wenn man unterstellt, dass Ärzte das bisher über die Privatversicherten abgerechnete Honorarvolumen in unveränderter Höhe über die gesetzlichen Kassen abrechnen.

Privatversicherte vergleichsweise alt

Die politischen Protagonisten einer Bürgerversicherung begründen die Idee in der Regel mit den hohen Entlastungen für die Solidargemeinschaft, die aus der Integration der bislang privatversicherten Besserverdiener resultiere. Tatsächlich scheint dieser Effekt aber weit weniger gewichtig als vielfach behauptet. Zwar gibt es Gutachten, die einen höheren Entlastungseffekt errechnen – dieser basiert aber meist auf der Annahme, dass gleichzeitig weitere Einkommensbestandteile beitragspflichtig sind und dass die Beitragsbemessungsgrenze steigt. Das wäre aber auch möglich, ohne die kapitalgedeckte Kranken- und Pflegeversicherung aufzulösen.

Wie sehr die gesetzliche Solidargemeinschaft tatsächlich entlastet würde, hängt auch davon ab, wie oft bislang privatversicherte Personen das System beanspruchen. Die Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung geht von relativ gesunden Privatversicherten aus – das dürfte sich allerdings künftig ändern: Schließlich sind vor allem vergleichsweise alte Beamten privat versichert. Gewöhnlich steigt das Gesundheits- wie Pflegerisiko mit zunehmendem Alter an, entsprechend müssten die Beitragszahler die Kosten dafür tragen. Sollten die Privatversicherten schneller als gesetzlich Versicherte altern, würde sich der Beitragssatz durch überdurchschnittlich hohe Ausgaben erhöhen statt zu sinken.

Ziel: Intergenerative neue Lastenverteilung

Um Missverständnisse zu vermeiden: Selbstverständlich ist es zulässig, unter Gerechtigkeitserwägungen zu diskutieren, warum das Gesundheits- und Pflegerisiko in Deutschland in zwei getrennten, nach Erwerbsstatus und Einkommenshöhe differenzierten Systemen abgesichert wird. Für die Beantwortung dieser Frage ist aber ein anderes Maß von Gerechtigkeit notwendig: die intergenerative Lastverteilung.

Unabhängig von der Verteilung der Beitragslasten im Querschnitt der Bevölkerung führt der demografische Wandel künftig zu einer stärkeren Inanspruchnahme der umlagefinanzierten Sicherungssysteme. Vor diesem Hintergrund erscheint es vielmehr geboten, ergänzende kapitalgedeckte Sicherungssysteme aufzubauen, statt die bestehende private Kranken- und Pflegeversicherung abzuschaffen. Denn in der kapitalgedeckten Alternative können die mit dem Alter steigenden Ausgaben nicht auf die Schultern nachfolgender Generationen geladen werden, sondern müssen von den Versicherten selber finanziert werden.

Wer eine breite Zustimmung zum Solidaritätsgedanken auch von künftigen Generationen erwartet, muss heute nach Antworten auf die absehbar steigenden Finanzierungslasten im Umlageverfahren suchen. Kapitalgedeckte Systeme erscheinen deshalb sinnvoll – nicht weil sie effizienter seien, sondern weil in ihrer Logik eine fortgesetzte Verschiebung von steigenden Lasten auf jüngere Beitragszahler-Kohorten ausgeschlossen ist. Allerdings würden damit vor allem die Mitglieder der geburtenstarken Jahrgänge stärker belastet. Doch tragen sie mit ihren niedrigen durchschnittlichen Geburtenraten auch maßgeblich zum demografischen Wandel bei. Deshalb ist es auch eine Frage der Gerechtigkeit, dieser Generation eigenverantwortliche Vorsorge abzuverlangen.

Foto: Shutterstock

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