Die jüngste Ankündigung von Apple, das neueste iPhone-Modell in Indien zu produzieren, hat die wachsende „China-plus-eins-Diskussion“ weiter angeheizt. Bei dieser Strategie vermeiden es globale Unternehmen, ausschließlich in China zu investieren, berichtet Capital Group. Stattdessen richten sie ihre Lieferketten neu aus und diversifizieren sie.
Aus der Investitionsperspektive von Julie Dickson, Investment Director, Capital Group wird es wichtig sein, abzuschätzen, inwieweit und wie schnell sich diese Verschiebungen auf China als „Fabrik der Welt“ auswirken und welche Chancen sich dadurch für Indien und andere Länder eröffnen, die gut positioniert sind, um einen Teil der globalen Wertschöpfung zu übernehmen.
Chancen für Indien?
„Indien ist ein offensichtlicher Nutznießer dieses Trends“, so Dickson. Rajeev Chandrasekhar, der indische Staatsminister für Elektronik und IT, habe kürzlich den Wunsch geäußert, ein zuverlässiger globaler Partner und Teil der globalen Wertschöpfungsketten für logische Halbleiter, Chipsätze und andere elektronische Produkte zu werden. „In seiner Rede auf dem Bengaluru Technology Summit im November 2022 sagte Chandrasekhar, dass die Elektronik- und Halbleiterindustrie auf einen Wert von 1,5 Billionen US-Dollar zusteuert.“ Er habe die wachsende Präsenz Indiens betont und festgestellt, dass das Land 2014 gut 92 Prozent der verkauften Handys importiert hätte, während 2022 etwa 97 Prozent in Indien hergestellt wurden.
„Im Jahr 2014 gab der Minister an, dass das Elektronik-Ökosystem des Landes, das die Bereiche Herstellung, Design, Innovation und Produktion umfasst, einen Wert von etwa zehn Milliarden US-Dollar hat“, erläutert Dickson. Bis 2022 sei dieser auf 75 Milliarden US-Dollar angestiegen und das Land habe sich das Ziel gesetzt, die Produktion in diesem Sektor bis 2025 auf 300 Milliarden US-Dollar zu steigern. „Daher sprechen wir derzeit mit mehreren indischen Unternehmen, um herauszufinden, inwieweit sie von den sich ändernden geopolitischen Gezeiten profitieren könnten“, so die Expertin.
Indien bis 2025 ein globales Zentrum für iPhones?
Die indische Regierung wolle das verarbeitende Gewerbe fördern und habe für verschiedene Sektoren produktionsabhängige Anreizsysteme (PLI) und höhere Einfuhrzölle auf bestimmte Produkte und Komponenten angekündigt, berichtet Capital Group. Das erste Programm betreffe die Herstellung und Montage von Mobiltelefonen und sei von den Unternehmen gut angenommen worden. „Analysten gehen beispielsweise davon aus, dass Apple Indien bis 2025 zu einem globalen Zentrum für die Herstellung von iPhones machen wird“, so Dickson. Während das Land derzeit knapp fünf Prozent der weltweiten iPhone-Produktion stellt, würden die Experten glauben, dass Indien die Fertigungskapazitäten erweitern und bis 2025 ein Viertel aller iPhones produzieren werde.
Ausschlaggebend für Indien, wie auch für China in den letzten Jahren, sei die schiere Größe der potenziellen Inlandsnachfrage. Ein riesiger lokaler Markt erleichtere Unternehmen die Entscheidung, Produktzentren im Land zu errichten. „Aus diesem Grund unterscheidet sich Indien von anderen Ländern wie Indonesien, Thailand und Vietnam, die in Bezug auf die Bevölkerungszahl von China in den Schatten gestellt werden“, sagt Dickson. Im Gegensatz dazu sei Indien derzeit die zweitbevölkerungsreichste Nation der Welt (mit 1,417 Milliarden Menschen im Jahr 2022 gegenüber 1,426 Milliarden in China), könne aber laut dem UN-Bericht über die Weltbevölkerungsprognose 2022 bereits in diesem Jahr die Spitzenposition einnehmen. Indiens Verbraucherbasis wachse ebenfalls schnell. So wird die Nachfrage nach Smartphones in den nächsten zwei Jahren die Nachfrage in den USA überholen, prognostiziert Capital Group.
Mehrere Faktoren zu beachten
„Aus chinesischer Sicht wird sich der Plus-Eins-Effekt trotz der großen Schlagzeilen allmählich einstellen“, so Dickson. „Wer eine rasche Verschiebung der Lieferkettenstrukturen erwartet, muss mehrere Faktoren beachten.“
Erstens seien die ausländischen Direktinvestitionen (ADI) in China nach wie vor sehr hoch und seien derzeit mehr als sechsmal so hoch wie in Indien. Im Jahr 2021 habe der Anteil der weltweiten ADI-Zuflüsse, welche auf China ausfielen, 19 Prozent getragen. Lediglich drei Prozent seien nach Indien geflossen.
„Zweitens verweisen Kritiker auf die steigenden Arbeitskosten in China als Grund für Unternehmen, sich anderswo umzusehen – und die Daten bestätigen den ersten Teil dieser Aussage“, betont Dickson. „Allerdings steigen die Arbeitskosten in Indien derzeit schneller: von 2010 bis 2021 um 55 Prozent, während sie in China im gleichen Zeitraum nur um 37,9 Prozent stiegen.“
Letztendlich werde die Infrastruktur ein Schlüsselfaktor sein. Indien und viele der anderen Schwellenländer, die vom Plus-Eins-Effekt profitieren könnten, müssten in den kommenden zehn Jahren noch viele der Straßen und wichtigen Infrastrukturen ausbauen, über die China bereits verfüge. Speziell in Indien seien die Infrastruktur-Ausgaben in den letzten Jahren gestiegen, aber es werde einige Zeit dauern, bis sie das Niveau erreichen würden, das erforderlich sei, um mit Ländern wie China zu konkurrieren.
China schon jetzt abzuschreiben, wäre ein Fehler
„China wird bis zum Ende der 2020er Jahre und darüber hinaus wahrscheinlich Anteile am Welthandel verlieren, während Indien, aber auch Länder wie Vietnam, Thailand, Mexiko usw. an Bedeutung gewinnen werden“, resümiert Dickson. Es wäre jedoch ein Fehler, China schon jetzt abzuschreiben – die vorhandene Produktionsinfrastruktur, die Logistikeinrichtungen, die qualifizierten Arbeitskräfte und die Lieferketten machen das Land zu nützlich, um es in absehbarer Zeit aufgeben zu können.“
Auch wenn es erst der Anfang sei, Indien sei heute wohl besser aufgestellt als China vor 20 Jahren. Die Regierung sei auf die wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtet und scheue sich nicht, kurzfristige Schmerzen für langfristigen Erfolg zu ertragen. Sie habe den Banken- und Immobiliensektor saniert, die Investitionen in die Infrastruktur erhöht und auch die Bürokratie abgebaut, um das Land unternehmensfreundlicher zu machen.