Chartismus: Voodoo oder Entscheidungshilfe aus Erfahrung?

Maschmeyer 3

Bei solchen Vergleichen lächelt der Fundamentalist erneut überheblich, aber er übersieht dabei, dass der Mensch und damit letztlich jeder Marktteilnehmer immer nach festen Orientierungspunkten sucht.

Der Versuch, Muster in einem Kursverlauf zu erkennen ist nichts anderes als eine Art von Aggregation, wie sie in weiten Teilen der „Schul“-Ökonomie angewandt wird. So beruhen zum Beispiel gesamtwirtschaftliche Wachstumsprognosen regelmäßig auf Zeitreihen. Bei Prognosen wird immer eine irgendwie geartete Vergangenheits-Zukunfts-Symmetrie angenommen.

Und auch die Ausfallwahrscheinlichkeiten, auf denen die Ratings der großen Agenturen (Moody´s, S&P und Fitch) basieren, werden aus der Historie abgeleitet. Ähnliches gilt für die berühmte Black-Scholes-Formel zur Bestimmung eines fairen Preises für Aktienoptionen (Nobelpreis 1997). Der Erwartungswert der Aktienrendite wird in diesem Modell gleich dem der Vorperiode gesetzt – bildlich gesprochen kann man also auch eine Münze für das Steigen oder Fallen werfen. Als Parameter in die Optionspreisformel geht aber auch die Volatilität der Aktie ein, die aus den historischen Kursverläufen geschätzt wird. Mit anderen Worten, es ist eine durchgängige wirtschaftswissenschaftliche Praxis aus der Vergangenheit Schlüsse für die Zukunft abzuleiten. Und wenn man die der Chartanalyse zugrundeliegenden Annahmen ablehnt, wird man auch im Lichte der aktuellen Erfahrungen der „fundamentalen“ Derivatebewertung kritisch gegenüberstehen müssen.

Oft werden die in der Chartanalyse betrachteten Durchschnittswerte wie die sogenannte 200-Tage-Linie, an der man in der jüngsten Vergangenheit einen Stopp des Abwärtstrends des Dax habe ablesen können, als willkürlich kritisiert. Denn, so die Chartkritiker, es sei nicht einzusehen, warum ein 200-Tage-Durchschnitt besser als ein 193-Tage-Mittel sein soll. Richtig ist, dass es kein analytisches Argument gibt, den 200-Tage-Durchschnitt zu wählen. Fakt ist aber – und darauf kommt es an –, dass die Menschen zu „einfachen“ und intuitiv eingängigen Grenzwerten neigen. So ist es kaum zu bezweifeln, dass mehr Menschen ein Stopp-Loss bei 20 als bei 19,3 Punkten eines Index setzen. Genauso wenig lässt sich theoretisch begründen – wenngleich es gängige Konvention ist –, dass in der Statistik die Standard-Konfidenzlevel bei fünf, eins und 0,1 Prozent und nicht etwa bei 4,83, 1,618 und 0,153 Prozent liegen.

Das heißt, viele vordergründig plausibel anmutende Angriffe auf die Chartanalyse erweisen sich bei näherer Betrachtung als nicht gerechtfertigt. Die Schwäche des Chartismus und seines Versprechens eines „sicheren“ Gewinns erwächst nicht aus der Vergangenheits-Zukunfts-Symmetrie dieses Konzeptes. Die Schwäche dieser Methode ist der banalen Tatsache geschuldet, dass nicht alle Teilnehmer an der Börse gewinnen können.

Die Chartanalyse kann nämlich nur funktionieren wenn sich viele Marktteilnehmer dieser Methode nicht bedienen. Denn ein Kurs kommt dadurch zustande, dass Käufer und Verkäufer unterschiedliche Zukunftserwartungen haben. Erwarten alle Marktteilnehmer das Gleiche, dann gibt es keine Preisbildung mehr durch einen Marktprozess, die charttechnisch oder fundamental vorausgesagt werden könnte.

Fazit: Der Kauf einer Aktie eines soliden innovativen Unternehmens wird sich im Durchschnitt immer lohnen, auch wenn in den aktuellen Kurs dieses Papiers immer auch irrationale Komponenten einfließen, womit wir wieder beim goldenen Schnitt angelangt wären. Stellt dieser doch in zahlentheoretischem Sinn die irrationalste aller Zahlen dar.

Am Ende gilt eben doch der Satz der alten Börsengurus Andre Kostolany: Wenn man bei 100 Investitionsendscheidungen 51 Mal richtig gelegen hat, ist man reich.

Dr. h.c. Carsten Maschmeyer gründete 1988 den Hannoveraner Finanzdienstleister AWD und brachte das Unternehmen im Jahr 2000 an die Börse. Im Mai 2009 verließ er AWD. Er ist Mitglied des Vorstands der im Januar gegründeten MaschmeyerRürup AG, die Banken, Versicherungen und Regierungen berät. Maschmeyer hält ein Mandat im Verwaltungsrat des Versicherers Swiss Life.

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