ChatGPT in der Assekuranz: „Ich würde es als digitale Revolution bezeichnen“

Foto: Accenture
Markus Heyen, Geschäftsführer und Leiter Versicherungen D-A-CH bei Accenture

Künstliche Intelligenz wie ChatGPT wirbelt nicht nur die IT-Branche durcheinander, sondern wird auch die Arbeitswelt in der Versicherungsbranche grundlegend verändern. Nahezu jedes Versicherungsunternehmen lotet bereits die Einsatzmöglichkeiten aus. Ein Interview mit Markus Heyen, Geschäftsführer und Leiter Versicherungen D-A-CH bei Accenture, über den Hype ChatGPT, das Revolutionäre an dem Programm und die Veränderungen, auf die sich die Versicherungswelt einstellen muss.

Herr Heyen, alles spricht von ChatGPT. Was macht diese Künstliche Intelligenz (KI) so besonders?
Heyen
: Künstliche Intelligenz gibt es ja seit Jahren. Durch die neuesten Entwicklungen von Open AI oder ChatGPT haben wir nun einen ganz neuen Impuls. Durch GenAI Modelle werden wir in den nächsten Monaten und Jahren neue Geschäftsmodelle sehen. LLM sind – vereinfacht gesagt – Künstliche Intelligenz-Systeme, die auf natürliche Sprache trainiert wurden, um Aufgaben wie Textgenerierung, Übersetzung, Textzusammenfassung und Fragebeantwortung auszuführen. Wir sehen eine hohe Akzeptanz und die Bereitschaft frühzeitig Anwendungsfälle zu pilotieren. Die Nutzer-Zahlen steigen deutlich. Das ist quasi der „iPhone-Moment“.

ChatGPT-3.5 ist seit November 2022 auf dem Markt, ChatGPT-4 seit März 2023. Google hat ein ähnliches System namens Bard angekündigt und Microsoft will ChatGPT-Funktionen in Bing und Office 365 integrieren. Harald Müller, Geschäftsführer der Bonner Wirtschaftsakademie (BWA), sagt, der breitflächige Einzug von KI sei historisch gesehen vergleichbar mit der Industriellen Revolution. Damals wurde Muskelkraft durch Maschinen abgelöst. Heute stehen wir an der Schwelle zur Ablösung menschlichen Denkens durch Algorithmen. Stehen wir vor einer Zäsur?
Heyen:
Wir sehen einen signifikanten Sprung. Wo kommt der her? Aus der Kombination diverser Medien und Technologien. Und vor allem dem trainierten Modell. Sie geben einen sogenannten Prompt ein, also eine definierte Fragestellung. Und je spezifischer die Fragestellung, desto spezifischer ist die Antwort. Auch bei LLMs sehen wir in der aktuellen Situation den Human-in-the-loop Ansatz als notwendigen Prozessschritt an, da auch falsche Antworten nicht ausgeschlossen werden können. FAQ-ähnliche-Prozesse gab es bereits früher bei ChatBots und auch im Service-Kontext haben Versicherungen diese bereits eingesetzt.

Mich wundert diese Begeisterung.
Heyen
: Sehr viele unserer Kunden setzen sich aktuell mit GenAI und ChatGPT auseinander. Es gibt die großen Cloud-Unternehmen, wie den Service von Google (Bart). Bei Microsoft gibt es die Open AI- Lösung. Und dann gibt es noch ein ganzes Ökosystem von Startups, die sich die Open AI-Technologie zu Nutzen machen und verschiedene Anwendungsmöglichkeiten entwickeln. Dieses Rennen hat gerade erst begonnen. Wir werden in den nächsten Monaten exponentielle Verbesserungen sehen. Sie sprachen von der Industriellen Revolution. Ich würde es als Digitale Revolution bezeichnen.

Wie leistungsfähig ist diese KI?
Heyen
: Wir haben eine aktuelle Studie hierzu. Wir gehen davon aus, dass ungefähr 40 Prozent der Arbeitsstunden über alle Industrien von Large Language Models erst einmal betroffen sind. Und da ist ChatGPT eine Anwendungsoption. Für die Assekuranz zeigen die Studiendaten, dass rund 50 Prozent aller Prozesse ersteinmal betroffen sind. Schaut man sich die Prozesse im Detail an, dann sehen wir vor allem im Vertrieb, im Underwriting, im Risikomanagement, in der Betriebsführung und Betriebsbearbeitung, in der Schadenbearbeitung oder der IT größere Optimierungspotenziale. Nehmen wir etwa in der IT agile Wertströme oder agile Entwicklungsmodelle, also DevOps. In der Phase vor GenAI Modellen gab es Github Co-Pilot. In der nächsten Ebene mit ChatGPT hat der Programmierer nicht nur die Möglichkeit, viel schneller zu programmieren, sondern könnte auch direkt die Programmiersprache ändern. ChatGPT würde dann beispielsweise C++ Code in Python Code umschreiben. So kann ChatGPT unter anderem dazu beitragen die Modernisierung von Programmiersprachen zu unterstützen beziehungsweise zu beschleunigen. Wir gehen davon aus, dass bei simplen Programmiertätigkeiten ein Einsparpotenzial von bis zu 50 Prozent möglich ist.

Einer Studie zufolge planen rund ein Viertel aller Unternehmen den Einsatz der LLM etwa im Marketing.
Heyen
: Es gibt mindestens fünf Bereiche, die für den Einsatz von Large Language Models in der Assekuranz in Betracht kämen. Im Marketing und Vertrieb sehen wir vor allem Projekte in anderen Branchen wie etwa mit Konsumgüterherstellern. Was dort passiert: Über die LLMs werden Content-Inhalte erstellt und vertriebliche Impulse, in diesem Fall Zielgruppen- beziehungsweise adressatengerechte Ansprachen über E-Mails. Und wir sehen in der Content-Erstellung massive Einsparungen. Sie könnten damit die begrenzte Zeit eines Redakteurs auf wertschaffendere Themen lenken. Und das zweite ist, dass der redaktionelle Prozess der Veröffentlichung – also etwa der Fehlerkontrolle – automatisiert wird. Und auch dort sehen wir signifikante Einsparungen, weil typische Qualitätssicherungssysteme automatisiert ablaufen.

Wo sehen Sie Herausforderungen für die Versicherungsunternehmen?
Heyen
: Fast in jeder Diskussion um ChatGPT bzw. Generative AI kommt füher oder später die Frage nach dem Datenschutz auf. Hier ist es wichtig, zwischen Private und Professional Modellen zu differenzieren. ChatGPT von Microsoft und Open AI, das Sie und ich frei nutzen können, hat natürlich Datenschutzrichtlinien, die vorschreiben, wie Sie die Daten schützen und verwenden – ist an sich aber ein offenes Modell. Unternehmen hingegen werden für sich geschlossene und personalisierte AI-Instanzen nutzen. Gerade in der Lebens- und Krankenversicherung wird mit sehr sensiblen Kundendaten gearbeitet, deren Schutz oberste Priorität hat. Neben den rechtlichen Vorgaben ist es eine Vorstandsaufgabe, den Rahmen zu definieren. Die Compliance- und Goverance-Abteilungen, aber vor allem die Projektteams, benötigen einen Rahmen, in dem sie sich bewegen können.

Warum sollten Versicherer auf ChatGPT setzen?
Heyen:
ChatGPT oder Large Language Model zeigen Fähigkeiten, die es so vor einem halben Jahr zwar in Grundzügen gab, die aber noch nicht in der breiten Anwendung waren. Als Versicherer wäre man gut beraten, wenn man sich offen zeigt und schaut, ob es für Endkunden und uns als Gesellschaft akzeptabel ist und Vorteile bringt. Es gibt genügend positive Beispiele, die man bei Kundinnen und Kunden, dem Innendienst und dem Vertrieb anwenden kann. Wir sehen an den Fragen, die wir bekommen, dass das Interesse groß ist. Und es gibt keinen, der sagt, das ist der Heilige Gral, mit dem er sich nicht beschäftigen möchte. Man sagt der Branche ja oft nach, dass sie langsamer ist in der Akzeptanz neuer Themen. Das ist hier nicht der Fall. Es gibt ein ungebremstes Interesse. Und es gibt erste Piloten.

Wie viele Versicherer beschäftigen sich derzeit mit dem Thema?
Heyen
: Das ist schwer zu sagen, aber aus den Gesprächen, die wir mit unseren Kunden führen, würde ich davon ausgehen, dass mehr als 75 Prozent aller Gesellschaften sich mit dem Thema ChatGPT beschäftigen. Es sind große und kleine Gesellschaften.

Auf der Bilanzpressekonferenz der DFV Deutsche Familienversicherung sagte der Vorstandsvorsitzende, dass einfache Versicherungsprodukte wie eine Hausrat- oder Haftpflichtversicherung künftig quasi im Vorbeigehen abgeschlossen würden. Und genau dort sehe er eine Einsatzmöglichkeit von ChatGPT. Macht ChatGPT den Vertrieb langfristig bei Sachprodukten überflüssig?
Heyen
: Ich glaube, dass der Vertrieb signifikant besser unterstützt wird. Von der Content-Erstellung über die Vorpaketierung von adressatengerechten E-Mails bis hin zum Vergleich von Produktbestandteilen. Auch in der direkten Kundeninteraktion ist der Fall auf der Sachseite eher denkbar als auf der Kranken- oder Lebensversicherungsseite. Was die kommenden 24 Monate betrifft, erwarte ich keine erheblichen Veränderungen – egal ob beim gebundenen Vertrieb oder Maklervertrieb. Denn dafür müssten sie ein Mindshift im Kundenverhalten haben. Sie müssen von der heutigen Struktur eines gebundenen Vertriebs – und das sind ja immerhin noch zwei Drittel, der direkte und digitale sind der Rest – eine signifikante Verlagerung sehen. Und vor allem müsste es das komplette Angebot im Lebenszyklus von uns als Privatpersonen abdecken können. Da wird noch ein gutes Stück zu gehen sein. Aber sind die Potenziale da? Und wird es exponentielle Entwicklungen in den Modellen als solches geben? Ja. Dass der komplette Vertrieb ersetzt wird, da wäre ich ein Stück weit vorsichtig.

In Italien ist der Einsatz von ChatGPT bereits untersagt. In Deutschland hält der Datenschutzbeauftragte Ulrich Kelber eine Sperrung für denkbar. Können Sie die Sicherheitsbedenken nachvollziehen?
Heyen
: Wir sehen neue Formen der Interaktion, die sich exponentiell entwickeln und die man noch nicht kennt. Dass man dort Sorgfalt und Vorsicht walten lässt, finde ich richtig. Es ist eine Aufgabe des Vorstands und der Compliance, die Rahmenbedingungen für die Assekuranz und die einzelnen Häuser zu setzen. Wir stehen, wie bei der Cloud, am Anfang eines Prozesses. Der Datenschutz ist ein sehr hohes Gut und erfordert die notwendige Sorgfalt in der Prüfung und Schaffung von Rahmenbedingungen, die für alle Parteien wichtig sind.

Das Interview führte Jörg Droste, Cash.

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