Neue Virusmutationen, ein weltweit niedriger Impffortschritt sowie eine ungleiche globale Verteilung des Impfstoffes, die die Bekämpfung der Pandemie in die Länge ziehen dürfte: Covid-19 wird Gesellschaft und Wirtschaft noch lange vor immense Herausforderungen stellen.
Die Pandemie könnte die Versicherungsbranche somit härter treffen als bisher angenommen. Zwar spricht der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in seinem Jahresausblick von einem „vorsichtigen Optimismus“, dies aber nur unter der Annahme, dass die Corona-Beschränkungen im Laufe des Frühjahrs gelockert werden und die Impfungen große Fortschritte machen. Danach sieht es aktuell aber leider nicht aus – insbesondere mit Blick auf die weltweite Impf-Lage.
So erhalten viele Schwellen- und Entwicklungsländer aktuell nicht einmal Zugang zu den begehrten Impfstoffen, da die Industriestaaten den Großteil der Impfdosen für sich beanspruchen und sich mit Preisaufschlägen möglichst viele Kontingente sichern.
Eine gefährliche Situation – sowohl für die Länder, die weiterhin keinen Impfschutz aufbauen können, als auch mit Blick auf den weltweiten Kampf gegen die Pandemie. Denn je mehr sich das Virus in Ländern mit niedrigem oder keinem Impfschutz ausbreiten kann, desto größer ist die Gefahr, dass sich neue Virusvarianten entwickeln, gegen die die heutigen Impfungen nicht mehr wirken.
Und selbst in vielen Industriestaaten geht der Impffortschritt nur langsam voran. Während in Israel bereits über 40 Prozent der Menschen mindestens einmal gegen das Corona-Virus geimpft wurden, haben hierzulande nur rund drei Prozent der Bevölkerung ihre erste Impfdosis bekommen. Das belegen die aktuellen Zahlen der Online-Publikation „Our World in Data“ und des RKI (Stand: 10.02.2021).
Lebensversicherer haben Folgen von Corona stark zu spüren bekommen
Die Versicherungsbranche wird daher auch 2021 unter enormen Druck stehen. Wie auch schon im vergangenen Jahr, werden hohe Schadenaufwendungen, insbesondere im Industrie- und Gewerbesektor, die Bilanzen belasten. Dabei waren die Ergebnisse der Industrieversicherer auch schon vor Corona defizitär.
Aktuelle Zahlen des GDV zeigen zudem, dass die Branche Ende 2020 insgesamt zwar ein Beitragsplus verzeichnete, dieses aber deutlich geringer war als noch im Vorjahr. In Zahlen ausgedrückt: Stiegen die Beitragseinnahmen im vergangenen Jahr lediglich um 1,2 Prozent, so lag der Anstieg 2019 noch bei gut sieben Prozent. Stark zu spüren bekommen haben die Folgen der Corona-Krise zudem besonders die Lebensversicherer. Laut GDV ist die Zahl abgeschlossener Verträge 2020 um gut 12 Prozent gesunken.
Hinzu kommt, dass sich der Anlagenotstand der Lebensversicherer mit dem milliardenschweren Ankaufprogramm der EZB weiter verschärft hat. Die Zinsen bleiben niedrig – und das sicherlich noch für die nächsten fünf bis zehn Jahre. Was dies für die Beitragsgarantien bedeutet, liegt auf der Hand: Es grenzt schon an Realitätsverweigerung, jetzt immer noch an einer 100-prozentigen Garantie festzuhalten. Die ersten Reaktionen in der Branche ließen nicht lange auf sich warten – einige großen Lebensversicherer haben sich bereits von der Beitragsgarantie verabschiedet.
Doch der Abschied von der Beitragsgarantie allein reicht nicht aus. Für die Versicherer kommt es mehr denn je darauf an, neue Geschäftspotenziale auszuschöpfen, sich vom Wettbewerb abzuheben und die eigenen Kernkompetenzen in den Fokus zu rücken. Denn wenn die Garantie wegfällt, verlieren Lebensversicherer ein wichtiges Asset im Vertrieb.
Was aber bleibt ist die Biometrie. Sie ist ein Alleinstellungsmerkmal der Versicherer, zumal der Staat hier große Absicherungslücken hinterlässt. Professionell investieren konnten immer auch schon andere, die Expertise in der Absicherung biometrischer Risiken liegt indes bei den Versicherungen und ist somit ein wichtiger Differenzierungstreiber.
Wachstum von 150 Prozent im Bereich der Biometrie möglich
Angefeuert wird diese Entwicklung dadurch, dass der Bereich der Absicherung von Lebensrisiken aktuell stark an Bedeutung gewinnt. Schließlich war die Sensibilität in Bezug auf die eigene Gesundheit selten höher als jetzt – und Sorgen vor möglichen Langzeitfolgen einer Covid-19-Infektion führen dazu, dass biometrische Risiken ins Zentrum des Interesses rücken.
Versicherer sollten sich daher neben dem Verkauf von Risikolebensversicherungen auch auf Produkte zur Absicherung von Invaliditätsrisiken wie Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Grundfähigkeit konzentrieren. Richtig angegangen, sollten Versicherer im Bereich der Biometrie um 150 Prozent wachsen können.
Dafür muss allerdings der Vertrieb auf neue Beine gestellt werden. Denn die Kundenanforderungen haben sich maßgeblich verändert. Um diese erfüllen zu können und neue Kunden zu gewinnen beziehungsweise Bestandskunden zu halten, müssen sich Versicherer folgende Fragen stellen: Welche Produkte brauchen Kunden aktuell, wie sollten diese verkauft werden und wie kann die Kundenbeziehung vertieft werden?
Zuallererst ist es wichtig, dass Versicherungsberater bei dem Thema Biometrie stärker enabled werden, sowohl inhaltlich als auch vertrieblich. Die Komplexität biometrischer Versicherungsprodukte ist groß, die Verbraucher benötigen dabei eine starke Guidance. Doch lange haben sich Berater und Makler auf den Vertrieb von Altersvorsorge-Produkten konzentriert, biometrische Risiken waren eher ein Randgeschäft. Somit sind die Unterschiede in der Beratungsqualität hoch – hier muss die Branche noch deutlich nachlegen.
Digitale Unterstützung als Schlüssel zum Erfolg
Darüber hinaus ist es wichtig, dass der Kunde häufiger angesprochen wird als bisher. Oftmals denken Versicherer in puncto Kontaktaufnahme nur an die vermeintlich großen Ereignisse im Leben, wie eine Heirat, einen Hauskauf oder die Geburt eines Kindes. Das ist nicht gerade die Definition eines Begleiters fürs Leben, der den Kunden kennt und weiß, welche Risiken auf ihn zukommen könnten. Damit geht viel mögliches Neugeschäft verloren und viele Vertriebsmöglichkeiten bleiben einfach liegen, statt intelligentes Cross-Selling zu betreiben.
Ein weiterer Schlüssel zum Erfolg sind Digitalisierungsstrategien und ihre konsequente Umsetzung. Dabei geht es nicht darum, den Berater zu ersetzen, sondern vielmehr, ihn smart zu unterstützen. Denn gerade in unsicheren Zeiten wie diesen und bei der Absicherung komplexer biometrischer Risiken sind die empathischen Fähigkeiten eines Beraters essenziell. Mittels digitalen Supports durch Algorithmen, Künstliche Intelligenz, Big Data und Machine Learning könnte die Beratungsleistung massiv gesteigert werden – und somit zu mehr Versicherungsabschlüssen führen. Der Einsatz digitaler Lösungen ist somit nicht denkbar ohne den Berater – umgekehrt sollte dies künftig aber auch gelten. Intelligent angegangen kann so aus den liegen gelassenen Chancen ein großes Potenzial für die Versicherer entstehen.
Autor Dirk Schmidt-Gallas ist Senior Partner und Leiter der Versicherungs-Practice bei Simon-Kucher & Partners.