„Die größten globalen Versicherungsunternehmen haben Jahresumsätze von jeweils weit über 100 Milliarden Dollar, das entspricht mehr als dem Doppelten des Umsatzes von Facebook im Jahr 2018. Viele der großen Versicherer haben in den letzten Jahren eigene digitale Einheiten aufgebaut oder kooperieren oder investieren in Insurtechs. Kleine und mittlere Versicherer hatten in der Vergangenheit eher die Strategie an den Tag gelegt, abzuwarten und das Problem auszusitzen. Aber die Digitalisierung lässt sich nicht aussitzen. Wer noch immer auf papierbasierte Prozesse setzt, ist gerade angesichts der Coronakrise nur beschränkt handlungsfähig. Es fehlt die Technologie, aber insbesondere auch die Erfahrung, digital zu beraten und zu verkaufen. All das wirkt sich letztlich negativ auf die Kundenzufriedenheit aus“, sagt Wiens.
Digitalsierung lässt sich nicht aussitzen
Von einem Brandbeschleuniger will Neodigital-Vertriebs- und Marketingvorstand Stephen Voss allerdings nicht sprechen. „Den Begriff halte ich für schwierig, sagt er im Interview mit Cash. Aber die Pandemie beschleunigt gerade die Transformation. Weniger in den Unternehmen, sondern viel mehr in den Köpfen. Viele Unternehmen stehen gerade vor der Herausforderung, dass der analoge Vertrieb einbricht und die Unternehmensführungen hier händeringend nach digitalen Lösungen suchen.“ Doch auch für die Insurtechs wird die Pandemie zu einer Herausforderung.
Getsafe-CEO Wiens spricht von einem Stresstest für Insurtechs und zeigte sich überzeugt, dass Insurtechs, die kein nachhaltiges Geschäftsmodell besäßen, das Beben, dass die Corona-Pandemie ausgelöst hat, nicht überstehen dürften. „Gerade im Fintech-Bereich gibt es Unternehmen, die sehr schnell viele Kunden gewonnen haben und teilweise mit mehreren Milliarden Dollar bewertet sind“, sagt Wiens.
Gleichzeitig seien deren Umsätze aber noch gering. „Investoren werden in den kommenden Monaten zurückhaltender sein und Geschäftsmodelle kritisch hinterfragen. Wer es nicht schafft, auch harte Finanzkennzahlen vorzuweisen, wird es da sehr schwer haben“, glaubt Wiens. Dass es sich bei den Aussagen um mehr als reines Marketinggeschwätz handelt, zeigte sich Mitte Oktober, als das Insurtech Getsurance Insolvenz anmeldete.
„Alles geht digital“ lautete das Motto der Gründer des Insurtechs, der Brüder Viktor und Johannes Becher. Die hatten Getsurance 2016 gegründet und waren im Juni 2017 mit einer digitalen Berufsunfähigkeitsversicherung an den Markt. Anfang des Jahres sprach Cash. mit Viktor Becher über das Start-up und das Geschäftsmodell.
Becher zeigte sich mehr als optimistisch, dass das Geschäftsmodell gute Chancen am Markt habe. Gesurance verkaufe BU-Policen rein digital. Rund 80 Prozent dabei über das Smartphone. Ziel seien rund 100.000 Abschlüsse im Jahr, mit eindeutigem Fokus auf Biometrie, sagte er seinerzeit. Anfang des Jahres lag der Vertragsbestand bei rund 6.000 Verträgen, davon 1.500 Berufsunfähigkeitsversicherungen.
Das Produkt laufe zwar erfreulich, sei aber bei Weitem keine exponentielle Wachstumsstory, sagte Becher. Als Gründe machte er die Komplexität des Produkts aus. Und generelle Verständnisprobleme auf Seiten der Kunden. In vielen Gesprächen oder Interviews äußerten daher Vertriebsvorstände gegenüber der Cash.-Redaktion immer wieder Zweifel, dass der Verkauf einer BU-Versicherung rein digital gelingen könne. Die einhellige Meinung der Experten war, dass ein komplexes Produkt wie die Berufsunfähigkeitsversicherung letztlich zu erklärungsbedürftig und somit kaum für den digitalen Verkauf geeignet sei.
Seite 3: Der stationäre Vertrieb muss sich ändern