Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE: „Nach der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 zeichnet sich ein Regierungsbündnis der CDU/CSU mit der SPD ab. Es wäre in der Geschichte der Bundesrepublik die fünfte Koalition von Schwarz-Rot nach 1966 bis 1969, 2005 bis 2009, 2013 bis 2018 und 2018 bis 2021. Der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht unserer Einschätzung nach eine Bundesregierung, die in der Lage sein wird, die wirtschaftlichen Herausforderungen entschlossen anzugehen. Dazu bieten die Wahlprogramme von CDU/CSU und SPD Schnittmengen.
Dennoch liegen die Positionen von CDU/CSU und SPD in zentralen Punkten der Wirtschafts- und Sozialpolitik weit auseinander. So wollen zwar beide Partner die Steuern senken, doch die CDU/CSU vor allem die Unternehmenssteuern. Zudem will sie den Solidaritätszuschlag vollständig abschaffen. Die SPD dagegen zielt in erster Linie auf Steuererleichterungen für Gering- und Normalverdiener. Während die Unionsparteien die Innovationskraft der Wirtschaft stärken wollen, betont die SPD in ihrem Programm öffentliche Investitionen in die Infrastruktur.
Grundlegende Wirtschaftsreformen sind aus unserer Sicht notwendig, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland zu stärken. Wir hoffen, dass die künftigen Regierungspartner dazu die notwendige Entschlossenheit und Einigkeit finden. Wir gehen davon aus, dass die Verteidigungsausgaben des Bundes weiter erhöht werden. Dies dürfte der deutschen Wirtschaft nennenswerte Impulse bringen. Dabei ist auch zu erwarten, dass die Schuldenbremse in ihrer bisherigen Form reformiert werden soll. Zur notwendigen Änderung des Grundgesetzes ist jedoch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erforderlich.
Wir gehen davon aus, dass die Aussicht auf eine stabile Bundesregierung von nur noch zwei Regierungspartnern den Euro tendenziell stärkt. Für den deutschen Aktienmarkt ist es eine positive Nachricht, wenn aus dieser vorgezogenen Bundestagswahl eine stabile Regierung hervorgeht. Besonders Unternehmen aus zyklischen Branchen wie Investitionsgüter, Bau und Versicherung dürften davon profitieren, wenn die neue Bundesregierung einen wirtschaftsfreundlichen Kurs einschlägt und wenn es ihr zudem gelingen sollte, die Wirtschaftsbeziehungen zu den USA zu entspannen. Dennoch befürchten wir, dass ein Minimalkonsens zwischen den beiden Regierungspartnern nicht genügen könnte, um die notwendigen Reformen zur Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf den Weg zu bringen.
Viele deutschen Unternehmen konnten sich der Wachstumsschwäche in Deutschland durch ihre starke Ausrichtung auf die Weltmärkte entziehen. So erzielen die im Deutschen Aktienindex Dax notierten Unternehmen mehr als 80 Prozent ihrer Umsätze im Ausland. Doch die weltpolitische Lage droht, konfliktreicher und wettbewerbsintensiver zu werden. Im aktuellen Umfeld birgt diese Öffnung somit auch Risiken, vor allem für die Säulen der deutschen Wirtschaft, den Automobilbau, Chemie und Pharma sowie den Maschinenbau. Deshalb wird es umso wichtiger, Wachstumskräfte in der heimischen Wirtschaft und dem europäischen Binnenmarkt freizusetzen. Die EU ist mit einem Anteil von 53,7 Prozent weiterhin der wichtigste Absatzmarkt für die deutsche Exportwirtschaft.
Der deutsche Aktienmarkt zählt viele Unternehmen, die gut vorbereitet sind, um den aktuellen Herausforderungen in der Weltwirtschaft zu begegnen. Dennoch empfehlen wir Anlegern, nicht einseitig auf deutsche Aktien zu setzen, sondern Aktienanlagen international zu diversifizieren. Aus dem Ergebnis dieser Bundestagswahl ergibt sich für Anleger nach unserer Einschätzung kein unmittelbarer Handlungsbedarf.“

Jan Viebig (Foto: Frank Blümler)