Dax: Reise ins Ungewisse (Die Bröning-Kolumne)

Tim Bröning
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Tim Bröning, Fonds Finanz

Die Lage der deutschen Wirtschaft ist alles andere als gut. Doch der Dax zeigt sich davon weitestgehend unbeeindruckt. Eine Einordnung

Die deutsche Wirtschaft ist in einer misslichen Lage. Das dritte Quartal in Folge verzeichnete die Bundesrepublik ein Nullwachstum. Die jüngste Prognose der EU-Kommission zeichnet ein düsteres Bild, denn im vierten Quartal soll die Konjunktur in Deutschland sogar schrumpfen. Derzeit ist Deutschland das einzige europäisches Industrieland, dessen Wirtschaft nicht wächst. Wieder ist deshalb in der Presse „vom kranken Mann Europas“ die Rede. Die Lage erinnert an die Jahrtausendwende, denn damals sah es schon einmal so aus, als ob Deutschland wirtschaftlich kaum wieder auf die Beine kommen würde.

Laut dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung befinden sich Anleger und Unternehmen derzeit in einem Stimmungstief. So schlecht wie momentan waren die Umfragewerte zuletzt im Coronajahr 2020, als die konjunkturelle Lage derart trüb und undurchsichtig war, wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Der Aktienindex DAX zeigte sich dieses Jahr hingegen weitestgehend unbeeindruckt von der miesen Laune, denn trotz der jüngsten Kursrückgänge liegt das Börsenbarometer auf Jahressicht weiterhin im Plus.

Die Märkte haben kurz- bis mittelfristig bekanntlich jedoch oft wenig mit der wirtschaftlichen Realität zu tun. Die soliden DAX-Stände dürften neben Zinssenkungsfantasien eher auf Aufholeffekten und günstigen Bewertungen fußen. Dennoch zeigten sich die Gewinne vieler Firmen trotz Rezessionsangst und hoher Zinsen stabiler als gedacht. Gleichzeitig warten deutsche Aktien mit deutlich niedrigeren Bewertungen auf als etwa ihre US-Pendants, was den hiesigen Markt für Anleger attraktiv machte.

Bereits für das vergangene Jahr zeigte eine aktuelle S&P-Analyse, dass Anleger aus Nordamerika ihr Engagement im DAX um vier Prozentpunkte auf mehr als 40 % erhöhten. Auch im asiatischen Raum wuchs das Interesse an deutschen Titeln. Deutschland bietet den größten und liquidesten Aktienmarkt für ausländische Investoren, die schnell und einfach ihre Europa-Position ausweiten wollen. Die Rückkehr internationaler Investoren dürfte den DAX merklich unterstützt haben. Die Mittelzuflüsse sind somit aber wohl eher pragmatischer Natur als ein Votum pro deutsche Wirtschaft.

Ein wackeliger Grundstein für Aktiengewinne

Heimische Anleger sollten sich daher fragen, wie solide das Fundament für zukünftige Aktienerträge ist. Bekanntermaßen steht die deutsche Wirtschaft vor vielen Herausforderungen: Sie ist industrielastig, somit konjunkturabhängig und energiehungrig. Vor allem die Automobil-, Maschinenbau-, Chemie- und Elektrobranche dominieren die heimische Wertschöpfung. Deutschland ist mit einer Exportquote von 50 % im verarbeitenden Gewerbe an ausländische Absatzmärkte – vor allem die USA und China – gebunden.

Die sichere und bezahlbare Energieversorgung bleibt ein existenzieller Faktor für heimische Firmen, den auch die hitzige Diskussion um einen ermäßigten Industriestrompreis derzeit nicht lösen kann. Zahlen der internationalen Energieagentur zeigen, dass der Strompreis für die Industrie in Deutschland ein Drittel teurer als in den USA ist. Die Gewinnmargen deutscher Firmen waren 2022 dagegen um ein Drittel niedriger.

Vor allem fehlt es aber an konsequent umgesetzter Innovation. Während beispielsweise die Zahl neu zugelassener E-Autos und Plug-in-Hybride in China Ende des Jahres rund 40 % betragen wird, diskutiert man hierzulande immer noch über die Zukunftsfähigkeit des E-Antriebs. Chinesische Autobauer, die rasch gelernt haben, preiswerte, reichweitenstarke und gutaussehende E-Flotten zu bauen, schmälern nicht nur in ihrem Heimatland den Marktanteil der deutschen Hersteller, sie werden auch auf dem internationalen Parkett zur Bedrohung. Sich als Marktführer der E-Mobilität zu etablieren hat man hierzulande verschlafen. Auch der deutschen Chemie werden mittlerweile Marktanteile durch Konzerne aus den aufstrebenden Ländern abgeknöpft. Vor drei Jahren verlor Deutschland schließlich sogar die Stellung als Exportweltmeister für Maschinenbau an China.

Der Totgesang der deutschen Wirtschaft ist dennoch übertrieben. Zwar sind die heimischen Firmen weder in Sachen Börsenwert noch hinsichtlich der Margen mit den Tech-Highflyern der USA zu vergleichen, dennoch tummeln sich in Deutschland laut einer Auswertung der Universität St. Gallen hunderte Weltmarktführer: Vom Chemieriesen mit 87 Mrd. EUR Jahresumsatz bis hin zum Messgerätespezialisten, der weniger als ein Tausendstel dieser Summe erzielt und dennoch seine Branche global anführt. Durch diese beinahe einzigartige Expertise könnte Deutschland der Krise entkommen. Schon einmal ist die Nation vom “kranken Mann” zum Powerhouse Europas avanciert.

Weitsicht für die Wirtschaft

Doch dafür wären Reformen nötig, denn das Land ist auf eine durchdachtere Wirtschaftspolitik angewiesen, die Bürokratie abbaut und Innovation sowie Unternehmertum belohnt. Zudem müssen durch Investitionen in die Digitalisierung, Infrastruktur und Bildung Standortnachteile geheilt werden. Während sich die Bundesregierung zankt, fördern längst die USA mit dem Inflation Reduction Act sowohl Unternehmen als auch den Ausbau einer günstigen, heimischen Versorgung mit erneuerbaren Energien. Obwohl der Inflation Reduction Act den Namen nicht verdient, haben die USA auch dadurch wieder einmal die Nase vorn.

Zur weitsichtigen Wirtschaftspolitik gehört aber auch, die potenziellen Marktführer von morgen zu unterstützen und zu entlasten. Es ist jedoch zu befürchten, dass es schon an der politischen Weichenstellung scheitert. Kaum verwunderlich, dass laut dem statistischen Bundesamt die Neugründungen von Betrieben „mit größerer wirtschaftlicher Bedeutung“ seit 2004 kontinuierlich sinken.

Deutsche Anleger sollten sich daher vor dem sogenannten „Home Bias“, der voreingenommenen Vorliebe für heimische Aktien, in Acht nehmen. Es spricht nichts gegen selektive Investments in besonders innovative deutsche Marktführer mit Wachstumschancen. Doch sollten Investoren nicht den ganzen DAX im Depot übergewichten, denn sein Potenzial dürfte gegenüber den anderen führenden Aktienmärkten begrenzt sein.

Die Möglichkeiten für den DAX hängen langfristig vor allem davon ab, ob es Deutschland schafft, die richtigen Weichen zu stellen – sowohl in der Politik als auch in den Chefetagen. Diese Weichen scheinen derzeit leider jedoch genauso marode und schwerfällig wie die der Deutschen Bahn.

Tim Bröning ist seit 2009 in der Geschäftsleitung der Fonds Finanz Maklerservice GmbH und verantwortlich für den Bereich Non-Insurance, Finance & Legal.

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