Vor prächtiger Kulisse im schönen Elmau zeigten sich die reichen G7-Länder wild entschlossen, dem lupenreinen Aggressor geopolitisch und wirtschaftlich das Handwerk zu legen. Doch ist der seit Ende des II. Weltkriegs allmächtige Westen in die Jahre gekommen. Der US-Präsident gilt bei vielen Amerikanern als Lame Duck und wird nicht nur von Trump gnadenlos gejagt. Großbritanniens Premierminister hat nach vielen Skandalen und den Folgen des Brexit nur noch so viel Strahlkraft wie die Sonne ab 22 Uhr. Der französische Staatspräsident ist seit der Parlamentswahl ein gerupfter gallischer Hahn. Japan ist nur noch ein Schatten seiner früheren Wirtschaftskraft. Italien ist glücklich über die Aufbauspritzen der EZB. Und in Deutschland ist vielfach der Lack ab.
Und erst jetzt, nach neun Jahren der Schaffung der chinesischen Seidenstraße, kommt der Westen auf die Idee, ein Gegenmodell von 600 Milliarden US-Dollar zu entwerfen, damit z.B. Südostasien, Afrika und Südamerika nicht vollständig unter die chinesische Knute geraten.
Der Westen kommt einem wie ein alternder Boxer vor, bei dem der letzte Kampf einer zu viel war. Trotz immer neuer Sanktionen wurden bislang nicht die gewünschten Wirkungen in Moskau erzielt.
Selbst ein Staatsbankrott Russlands lässt Putin ziemlich kalt. Zunächst, wenn der Kreditnehmer nicht zahlt, haben die -geber das Problem. Zwar kann die westliche Welt Russland zukünftig keinen Cent mehr geben. Aber es kann problemlos fremdgehen. Denn es hat begehrte Sicherheiten: (Energie-)Rohstoffe.
Putin hat keinen Grund einzulenken
Überhaupt leben 80 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern, die die westlichen Sanktionen gegen Putin nicht mittragen. Denn so bekommen China, aber auch Indien, Brasilien, Südafrika und andere den Energy-Drink, der ihnen wirtschaftliche Flügel verleiht, zum Schnäppchenpreis. Dagegen fällt die westliche Moral hinten runter und der Rubel für Putins Kriegskasse rollt weiter. Auf dem St. Petersburger Wirtschaftsforum haben die „BRIC plus“-Staaten brüderlich fast schon einen alternativen Interessenclub mit Russland als Rohstofflieferanten gegründet. Auch der starke Rubel zeugt nicht von einem isolierten oder zahlungsunfähigen Russland.
Sicher, die Beziehungen zwischen Russland, China und Indien sind nicht unbedingt von Liebe geprägt. Doch hilft die überzeugende (Energie-)Mitgift über viele zwischenmenschliche Makel hinweg. Nicht zuletzt empfindet das ein oder andere Schwellenland Genugtuung, dass der Westen, der sie ihrer Meinung nach zu sehr bevormundend mit Demokratie, Menschenrechten, Moral und Klimaschutz quält, blutet. Endlich kann man ihm und insbesondere Amerika Grenzen aufweisen.
Damit ist auch der westliche Preisdeckel bei russischem Öl hinfällig. Denn dieser funktioniert nur, wenn möglichst alle einträchtig mitmachen, was aber nicht passiert. Peu à peu wird Putin europäische Nachfrager durch neue „Bruderstaaten“ ersetzen. Und Russland arbeitet daran, die gleiche Versorgungspolitik auch mit Gas zu praktizieren. Mit der kürzlichen Drosselung um 40 Prozent hat Putin schon einmal die Energie-Muskeln spielen lassen. Der Preisanstieg, den Putin selbst erzeugt hat, kompensiert den Mengenausfall mühelos.
Selbst der beste Jockey kann ohne Pferd nichts erreichen
Einen weiteren Kraftbeweis könnte er im Rahmen der Wartung der russischen Pipeline Nord Stream 1 ab 11. Juli erbringen, wenn die Gaslieferung wie jedes Jahr routinemäßig eingestellt wird? Es spricht wenig dafür, dass die Gasleitung anschließend weiter still ruht. Zwar würde er Europa mit diesem Schritt massiv zusetzen. Gleichzeitig jedoch würde er seinen größten Trumpf auf einen Schlag aus der Hand geben. Eher ist zu vermuten, dass er aus vorgeschobenen „technischen“ Gründen, für die er die westlichen Sanktionen verantwortlich macht, abermals die gelieferte Gasmenge reduziert. So will er mit dem Westen spielen wie der Löwe mit seiner Beute.
Grundsätzlich drohen eine Gasrationierung, eine sofortige Preisanpassungsklausel und damit ein weiterer preislicher Angebotsschock. Das wird der Konjunktur genauso wenig schmecken wie die geldpolitische Bekämpfung der Inflation. Zwar wird sich die EZB vergleichsweise zurückhalten. Aber die jetzt schon sichtbaren Kreditverteuerungen machen Firmen und Konsumenten das Wirtschaftsleben noch schwerer.
Insgesamt, während die Wirtschaftsstandorte der Russland-Gang gewaltige Aufwertung erfahren, darben die Industriestaaten Europas, die ihr Know-How wegen knapper Rohstoffe oder überteuerter Energiepreise so wenig zeigen können, wie ein Fußball-Megastar, der verletzt auf der Ersatzbank sitzt.
Bei Geschäften Chinas und Indiens mit Russland ist theoretisch zwar die Gefahr von Zweitsanktionen gegeben. Doch stellt sich praktisch die Frage, ob Europa, das bei Vorprodukten von China nicht weniger abhängig ist als bei Gas von Russland, tatsächlich den Fehdehandschuh wirft. Bei der E-Mobilität kommt Europa z.B. an Lithium nicht vorbei, über das China wacht wie der Hund über seinen Knochen. Auch die Energiewende mit Wärmepumpen, Windrädern, Photovoltaik oder Sonnenkollektoren hängt an Materiallieferungen aus dem Land der Mitte. Mittlerweile könnte China sogar einen Handelskrieg gegen Europa führen.
Und dann ist da noch die pure Wirtschafts-Not. Italien versucht den Befreiungsschlag aus seiner schon sprichwörtlichen Misere. Mit China wurde ein Entwicklungsabkommen geschlossen, das von Hafenmanagement und Wissenschaft über Technologie und E-Commerce bis sogar Fußball so ziemlich alles abdeckt. Der Preis ist hoch, denn so erhält Peking über die italienische Eintrittstür Zugang zur Gesamt-EU, was zu weiteren Abhängigkeiten führen könnte.
Krisenfestigkeit ist bislang nur ein cooles politisches Wort
Die EU hat spätestens 2014 alle Strukturreformen und damit Wettbewerbsfähigkeit aufgegeben, als die EZB den freien Mittagstisch einführte. Das Leistungsprinzip galt als obsolet. Die bittere Konsequenz blieb nicht aus: Der EU mangelt es heute an technologischem und geistigem Eigentum und sie fällt weiter hinter die USA und China zurück. Tatsächlich rangiert kein einziges europäisches Unternehmen mehr unter den 15 führenden Technologieunternehmen der Welt und nur vier der 50 weltweit führenden Technologieunternehmen sind europäisch. Übrigens, mittlerweile liegen die Patentanmeldungen der autokratischen Welt vor denen der demokratischen.
Unser Wohlstand wird eine gewisse Zeit leiden. Denn die Behebung der Strukturdefizite ist eine Mammutaufgabe. Am Ärmel hochkrempeln, auch am Beschneiden eines unkrautartig wuchernden Gutmensch-Staates führt kein Weg vorbei. Und wer sogenannte schmutzige Industrien abschaltet, muss auch Alternativen einschalten. Doch während China bei grünem Wasserstoff eine rasante Entwicklung hinlegt, steht der Green New Deal bei uns bislang nur auf dem Papier, was in Europa besonders geduldig ist. In der Zwischenzeit sollten auch ideologische Energie-Bretter abgenommen werden. Und nicht jeder Immobilienbesitzer kann sich die energieseitige Sanierung leisten.
Übrigens wird der Wohlstand auch nicht gesichert, indem man der aggressiven Seite entgegenkommt. Wenn sich erst einmal herumgesprochen hat, dass man speziell mit uns in Europa den Molli machen kann, haben wir uns nicht nur geopolitisch bis auf die Socken blamiert und werden anschießend an jeder wirtschaftlichen Ecke erpresst. Dann verlieren wir längerfristig noch mehr Wohlstand und brauchen noch mehr warme Pullover.
Bei zunehmenden sozialen Problemen gerät auch die Demokratie in die Defensive. Doch gerade sie hat gegenüber autoritären bzw. totalitären Regimen dramatische Vorteile. Sie erlaubt Meinungsfreiheit und damit die Auseinandersetzung über den besten Weg. Dieser Vorteil geht in Systemen, in denen nur die Meinung der großen Vorturner zählt, verloren. Daher sollte auch Europa nie auf die Idee kommen, Meinungen von oben vorzugeben, die vermeintlich über alle Zweifel erhaben sind. Statt politisch korrektem Mainstream brauchen wir wieder mehr Streitkultur á la Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß.
Europäische Politiker fordern von Europa immer mehr Krisenfestigkeit ein. Ja, dann zeigt mal, dass nach Worten auch wirkliche Taten folgen. Sonst fällt unser Kontinent der drohenden Bipolarität der Welt zum Opfer.
Ich habe keinen Bock darauf, dass hier bei uns noch mehr den Bach heruntergeht.
Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit Abschluss seines betriebswirtschaftlichen Studiums 1990. Halver verfügt über langjährige Erfahrung als Kapitalmarkt- und Börsenkommentator. Er ist aus Funk und Fernsehen bekannt und schreibt regelmäßig für Cash.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.roberthalver.de/Newsletter-Disclaimer-725