Da kann man ja sicherlich viel mithilfe digitaler Tools updaten. Welche Rolle spielt eigentlich Künstliche Intelligenz (KI) in der betrieblichen Vorsorge?
Rehfeldt: Ich habe ein paar Mal mit ChatGPT herumgespielt, und das Ergebnis war nicht überzeugend. Aber ich denke schon, dass KI in der Verwaltung von betrieblichen Versorgungssystemen eine große Rolle spielen kann. Wenn man sich ein bisschen intensiver damit beschäftigt und in diese ganzen Human-Resources-Prozesse reingeht, dann weiß man, dass nicht nur betriebliche Versorgungssysteme ein Verwaltungsproblem haben, sondern alle anderen Systeme auch. Mir sagen Personalverantwortliche immer: „Ich hätte am liebsten ein System, in das ich einmal eingebe, dass der Arbeitnehmer eine entgeltlose Dienstzeit hat, und dann wird das in alle anderen Systeme gestreut, und ich muss da nichts mehr machen.“ Das ist die Wunschvorstellung, davon sind wir aber noch weit entfernt. Digitalisierung ist ein zentrales Thema für die Zukunft.
Gräfer: Ich sehe große Anwendungsfelder für KI-ähnliche Lösungen. Nicht nur im Beratungsansatz, sondern auch über die Zeit. Man kann es ja persönlich kaum noch leisten, Arbeitnehmer jedes Jahr darüber zu informieren, was gerade passiert, was sie tun können, was sie nicht tun können, an welchen Stellen sich Änderungen ergeben haben. Die Newsletter werden nicht gelesen, seien wir mal ganz ehrlich. Betriebsversammlungen allein reichen dafür auch nicht. Also muss man die Mitarbeiter direkt ansprechen. Und da sind KI-ähnliche Modelle durchaus vorstellbar. Nehmen wir mal ein Beispiel: Der Berater kann den Kunden einmal im Jahr besuchen, ohne ihn zu besuchen, indem er einen Avatar für sich erstellt und den Kunden berät. Die Fragen, die der Kunde stellt, kennt er sowieso schon alle. Der Kunde wird ja keine einzige Frage stellen, die ihn verblüfft. Das heißt, man kann wirklich gute Beratungsgespräche übersetzen und damit seinen Wirkungsgrad deutlich erhöhen. Digital ist vieles möglich.
Markovic-Sobau: Ich kann das nur unterstreichen, in der bKV ist das unser Kerngeschäft. Eine Stunde nach Abschluss beginnt quasi unser Kontakt mit dem Beschäftigten. Leistung, die eingereicht werden, erstatten wir sehr schnell. Das können wir wunderbar mithilfe von Digitalisierung machen, zum Beispiel mit unserer App Hallesche4u, dort findet ein sehr häufiger Kundenkontakt statt, auch mit Hinweisen und Tipps. Da ist eine Menge Potenzial vorhanden. Ich würde das aber nicht unter Beratung subsumieren, sondern unter Kundenkommunikation oder auch -pflege im weitesten Sinne. Wir streuen im Kontakt mit den Kunden durchaus Aspekte ein, die dann möglicherweise ein Gespräch mit dem Berater erforderlich machen.
Berndt: Perspektivisch wird KI auf jeden Fall in allen Dimensionen eine Rolle spielen. Viele Prozesse in der bAV sind extrem aufwendig, zum Beispiel die ganzen Fortführungen. Auch Fragen wie: „Was willst Du damit? Stellst Du den Vertrag beitragsfrei, lieber Arbeitnehmer? Willst Du den Vertrag beim neuen Arbeitgeber fortführen?“ Das alles ist für Vermittler sehr aufwendig und wird deshalb auch nicht systematisch gemacht. Da kann KI sicherlich helfen. Stand heute sind wir noch nicht soweit, aber wir werden da hinkommen.
Patricio: KI wird jetzt Alltag. Wir werden die Veränderungen gar nicht merken. Die Leute erwarten, dass morgen was passiert. Morgen passiert aber nichts. Aber wenn wir uns die nächsten zehn Jahre anschauen, passiert jeden Tag eine Kleinigkeit. Und wenn wir in zehn Jahren wieder darauf zurückblicken, denken wir: Oh, so haben wir vor zehn Jahren gearbeitet? Dann wird ein Avatar im Vertriebsalltag ganz normal sein. Jeder von uns hat eine Bank-App auf dem iPhone und klickt dreimal am Tag drauf. Dann klickt man vielleicht noch auf die Reisen, die man gesucht hat. Wer bucht denn heute noch eine Reise im Reisebüro? Das müssen wir auch in der betrieblichen Vorsorge schaffen. Der Kunde muss den Gedanken haben: Oh, wie ist denn der Stand meiner bKV? Und dann klickt er einfach drauf.
Gräfer: Es ist eine große Schwäche unserer Branche, übrigens auch der Beraterinnen und Berater, dass wir am Anfang immer ganz stark sind und dann mit der Laufzeit schwächer werden. Das müssen wir ausmerzen. Wir haben ja gerade gehört, wie viele Rahmenverträge überhaupt nicht mehr gepflegt werden. Da ist ein großes Potenzial für uns, und digital ist vieles möglich. Wir brauchen nur den Regisseur, der genau sagt, was getan werden muss, und das sind die Fachleute.
Der zweite große Megatrend neben der Digitalisierung ist das Thema Nachhaltigkeit. Welche Bedeutung haben ESG-Faktoren mittlerweile in der betrieblichen Vorsorge?
Markovic-Sobau: Das Thema hat viele Gewänder. Wir sprechen hier vom Firmenchef, der nachhaltig wirken muss, beziehungsweise etwas in sein Business einbringen muss, sowohl was sein Geschäftsmodell betrifft als auch seine Belegschaft. Die bKV ist ein wunderbares Instrument, das wir ausliefern oder an die Hand geben. Indem der Firmenchef sie kauft und verteilt, bekommt er bestätigt, dass er gegenüber seinen Mitarbeitern nachhaltig auftritt. Wir sind nicht beim ökologischen Fußabdruck, sondern im Bereich „Social“. Was auch zu Nachhaltigkeit gehört, ist: Tue Gutes und rede darüber. Auch kleine Schritte, die die Nachhaltigkeit betreffen, dürfen kommuniziert werden. Je nach Berichtspflichten müssen sie es sogar.
Berndt: Wir betrachten uns als Pioniere im Bereich der nachhaltigen Altersvorsorge, weil wir das Thema schon seit 2013 systematisch betreiben. Wir nehmen natürlich die eher kritischen Diskussionen auf der Vermittlerseite wahr, so im Sinne von: „Ach komm, Nachhaltigkeit, da haben wir keine große Lust drauf! Noch eine zusätzliche Abfrage, und die Abfragen sind eh kompliziert!“ Ich möchte das mal bewusst umdrehen: Im Moment äußern Kunden eine hohe Präferenz beim Thema Nachhaltigkeit. Wenn man in seinem Freundeskreis unterwegs ist, unterhalten sich alle darüber mit ihren Kindern. Jeder sucht da seinen eigenen Weg, aber jeder hat grundsätzlich ein Interesse daran.
Unabhängig von der Altersklasse?
Berndt: Nein, es gibt natürlich Altersstrukturen, in denen man Unterschiede sieht. Aber selbst bei Menschen wie mir, also in ihren Sechzigern, ist ein Grundinteresse vorhanden. Bei den ganz Jungen ist der Prozentsatz natürlich höher, aber generell ist eine hohe Präferenz da, ein hohes Interesse. Das ist eine große Chance für Vermittler, sowohl in der betrieblichen Altersversorgung als auch in der privaten Altersvorsorge. Wenn der Vermittler den Kunden wirklich mal auf das Thema Nachhaltigkeit anspricht, wird er viel positives Feedback bekommen und hat damit eine zusätzliche Chance, sich im Wettbewerb zu differenzieren – nicht mit einem Preisthema, sondern mit einem wichtigen gesellschaftlichen Thema.
Gräfer: Das möchte ich leidenschaftlich unterstützen. Das ist exakt auch unsere Erfahrung. Wir bekommen viele Anfragen zum Thema Nachhaltigkeit, nicht nur von Maklern. Jüngst hat ein Bekleidungshersteller nicht kleiner Art aus Baden-Württemberg über die Nachhaltigkeitsbeauftragte des Unternehmens eine Anfrage zur betrieblichen Altersversorgung bei uns gestellt. Man habe gehört, dass Pangaea Life da was Besonderes anbietet. Wir sind vorstellig geworden, der Kunde wird von einem mittelgroßen Versicherungsmakler betreut, dem Nachhaltigkeit nicht besonders wichtig ist. Und am Ende des Tages hat der Makler nun auch das Mandat übernommen, ein zusätzliches Versorgungswerk einzurichten, zusätzliche Produkte von Pangaea Life zu etablieren. Er hat die Kurve also noch mal bekommen, was ja gut für ihn ist. Das Thema Nachhaltigkeit ist bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern hochrelevant. Und es ist übrigens auch gut, wenn man als Mittelständler seine ESG-Berichte erstellen muss. Dann braucht man ein bisschen Futter, um sagen zu können, ob man für die Bank den richtigen Bonitätskurs hat. Nachhaltigkeit ist ein Riesenbonitätskurs für die Betriebsmittelfinanzierung bei Banken. Auch deshalb ist es eine gute Idee, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
Auch die von der Bundesregierung eingesetzte Fokusgruppe Private Altersvorsorge hat sich mit der bAV beschäftigt. Was wünschen Sie sich von der Politik?
Berndt: Die Fokusgruppe hat sich nur mit der privaten geförderten Altersvorsorge beschäftigt, um Riester neu zu denken. Es gibt aber eine zweite Arbeitsgruppe, die durch den Koalitionsvertrag zum Thema bAV eingesetzt worden ist, unter der Leitung des Arbeitsministeriums. Dort rechnen wir tatsächlich mit einem Vorschlag für ein Gesetzgebungsverfahren noch im ersten Halbjahr 2024. Es wird keinen großen Wurf geben, sondern eine Ergänzung zum Sozialpartnermodell – eine Spezialregelung, die auf eine individuelle Initiative hin begründet worden ist und für freie Berufe ermöglichen soll, ein Sozialpartnermodell zu konstruieren, wenn das über eine Verbandslösung erfolgt. Der zweite Punkt ist allerdings sehr zu begrüßen. Das ist die Paragraph-100-Förderung, also Paragraph 100 Einkommenssteuergesetz, die Förderung für Geringverdiener. Die soll verbessert werden. Dabei geht es um die Dynamisierung der Einkommensgrenzen, was sehr gut wäre.
Patricio: Ich finde allerdings, dass die Geringverdiener nicht die entscheidende Zielgruppe sind. Menschen, die heutzutage 1.200 oder 1.300 Euro netto haben in einer Stadt wie Hamburg, haben schon Probleme, ihre Miete zu bezahlen, ihre Kosten einigermaßen im Griff zu haben. Es wird sehr schwierig sein, die dafür zu gewinnen, in irgendeine Form der betrieblichen Altersversorgung reinzugehen – auch wenn man da jetzt fördern würde. Man sieht das ja bei Riester. Es ist nicht wirklich gelungen, Riester trotz der signifikanten Förderungen flächendeckend an die Geringverdiener zu bringen.
Berndt: Da widerspreche ich. Bei Riester ist der Unterschied, dass der Kunde wirklich noch selbst etwas zahlen muss. Bei der Geringverdienerförderung zahlt der Arbeitgeber und bekommt einen Teil – hoffentlich demnächst mehr als bisher – vom Staat gefördert. Das ist eine echte arbeitgeberfinanzierte Versorgung. Deshalb ist gar nicht die entscheidende Frage, ob jemand, der ein geringes Einkommen hat, das will oder nicht.
Patricio: Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf die Durchdringungsraten bei den Geringverdienern. Wir werden das ja in zwei oder drei Jahren sehen.
Rehfeldt: Ich würde ergänzend gerne noch etwas zum Betriebsrentenstärkungsgesetz sagen, dem letzten größeren politischen Reformvorhaben in der bAV, das seit 2018 in Kraft ist. Was mich dabei fürchterlich geärgert hat: Wenn ich als Bundesregierung ein Betriebsrentenstärkungsgesetz mache, dann muss ich doch auch eine entsprechende Kampagne starten. Dann muss ich eine Werbekampagne dazu machen. Dann muss ich vor der „Tagesschau“ einen Spot schalten, von der Bundesregierung gefördert: „Macht Entgeltumwandlung! Macht betriebliche Altersversorgung!“ Und was war? Nichts. Da ist überhaupt nichts passiert. Der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm hat sich im Wahlkampf 1986 wenigstens noch hingestellt und gesagt: „Die Rente ist sicher.“
Gräfer: Unsere Diskussion zeigt doch sehr schön, wie wertvoll es ist, sich das Thema betriebliche Vorsorge auszusuchen – und nicht zu versuchen, die günstigste Kraftfahrzeugversicherung oder die günstigste Privathaftpflicht als Geschäftsfeld zu sehen. Im Kontext der betrieblichen Vorsorge lässt sich unglaublich viel Wert erzeugen. Es macht ja auch viel mehr Spaß, den Menschen einen sinnhaften Beitrag leisten zu können. Deswegen, unabhängig davon, wann die Gesetzesreform nun kommt oder auch nicht: Die Beratung muss jetzt losgehen. 2024 ist der beste Zeitpunkt, um damit zu starten.
Welche Markterwartungen haben Sie mit Blick auf das neue Jahr?
Gräfer: Offen gestanden, dieses Gespräch hat mich derart motiviert, dass meine Erwartungen noch einmal deutlich gestiegen sind. Ich gehe davon aus, dass in diesem Jahr in der Altersvorsorge großes Potenzial besteht. Die Krisen, die jetzt auch bei den Arbeitgebern in unterschiedlichen Formen ankommen, könnten natürlich eine besondere Herausforderung darstellen. Dennoch blicke ich sehr optimistisch ins Jahr 2024.
Berndt: Da schließe ich mich an. Wir gehen in unseren Planungen davon aus, dass wir die positive Entwicklung fortsetzen können. Wir erwarten ein weiteres Wachstum in der betrieblichen Altersversorgung. Dementsprechend sind auch unsere Aktivitäten in diesem Jahr angelegt, die Veranstaltungen mit Versicherungsvermittlern und auch die weiteren Themen in der Produktentwicklung.
Markovic-Sobau: Wir sind motiviert und jagen den nächsten Rekord. So würde ich unsere Aussichten für das neue Jahr zusammenfassen.
Rehfeldt: Da bin ich voll dabei. 2024 wird wieder ein sehr gutes Jahr, sowohl in der bAV als auch in der bKV.
Patricio: Die Hanse Merkur wird im nächsten Jahr 150 Jahre alt und wir haben besonders in den letzten Jahren viele Rekorde aufgestellt. So gesehen freue ich mich auf 2024 und bin total optimistisch. Sowohl bAV als auch bKV werden viele Möglichkeiten eröffnen – für uns, für die Makler und für die gesamte Branche.
Dieser Artikel ist Teil des EXTRA Betriebliche Vorsorge. Alle Artikel des EXTRA finden Sie hier.