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Die Bröning-Kolumne: Aufgewacht, Europa!

Tim Bröning
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Tim Bröning, Fonds Finanz

Spätestens mit der Rede von US-Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchener Sicherheitskonferenz sollte Europa klar sein, dass es sich endlich um seine Belange selbst kümmern muss. Worauf es jetzt vor allem ankommt

Das Überraschungsmoment hatte der frischgebackene US-Vizepräsident J.D. Vance auf seiner Seite, als er bei der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz einen Kulturkampf der Trump-Regierung gegen Europa ankündigte. Die Kinnladen fielen den europäischen Delegierten sprichwörtlich herunter, denn seine Rede nutzte er dazu, den europäischen Nationen zu erklären, ihnen seien die gemeinsamen Werte mit den USA, darunter Meinungsfreiheit und Demokratie, abhandengekommen.

Eigentlich hatte man eine Rede zum Krieg in der Ukraine erwartet. Stattdessen stellte der US-Gesandte klar, dass sich die Vereinigten Staaten von Europa abkoppeln werden. Laut ihm könnten die Europäer keine Hilfe mehr von ihrem einst stärksten Verbündeten erwarten, wenn sie sich nicht gesellschaftspolitisch an die Trump-Regierung angleichen. Angesichts Donald Trumps bisherigen Signalen hätte diese Androhung so überraschend sein sollen wie Schnee am Nordpol, aber das Erstaunen vor Ort war dennoch groß.


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Chance auf Eigenständigkeit

Unabhängig davon, ob man Vances Darstellung Recht gibt oder nicht – wir Europäer müssen die Drohungen endlich ernst nehmen. Denn Trump zeigt, dass es sich nicht nur um Lippenbekenntnisse handelt: Jüngst führte er Friedensgespräche mit Russland, ließ dabei aber die Ukraine und europäische Staaten außenvor. Als krönenden Abschluss gab er der Ukraine die Schuld am Ausbruch des russischen Angriffskriegs im eigenen Land.

Als europäisches Staatsoberhaupt könnte man nun über die aufgekündigte Partnerschaft zwischen dem alten und neuen Kontinent und das unheilige Bündnis zwischen Vladimir Putin und Donald Trump lethargisch trauern. Es wäre verständlich. Man könnte das Gebaren der USA aber auch als Weckruf und Chance für den eigenen Wirtschaftsraum begreifen!

Dass wir unsere Wehrfähigkeit künftig selbst sicherstellen müssen, ist endgültig offensichtlich. Darüber hinaus müssen wir Europäer aber auch unsere Innovationskraft wiederentdecken. Es gilt, Produkte und Dienstleistungen am Weltmarkt anzubieten, die derart herausragend und unverzichtbar sind, dass ihre zwangsläufig hohen Preise in den Hintergrund rücken. Dies würde nicht nur die Stärken der europäischen Wirtschaft nutzen, sondern auch den heimischen Fertigungsstandort unterstützen.

Innovationskraft zulassen

Die europäische Politik muss Disruption und neue Ideen sowohl innerhalb bestehender als auch neuer Firmen fördern. Die Amerikaner machen es mit Unternehmen wie Alphabet, Amazon, Apple, NVIDIA, Microsoft und vielen weiteren Weltmarktführern vor. Während das Alter der Top-10-Firmen im NASDAQ-Index im Mittel bei gerade einmal 35 Jahren liegt, sind die zehn größten Unternehmen des TecDax 60 Jahre alt. Viele große US-Tech-Titel wurden um die Jahrtausendwende herum gegründet, während europäische Champions heute noch von der Innovationsfreundlichkeit um den Anfang des letzten Jahrhunderts zehren.

Um konkurrenzfähig zu werden, braucht es vor allem eine gehörige Portion Entbürokratisierung und freie Marktwirtschaft. Firmengründungen müssen beispielsweise einfacher und günstiger werden. Bürokratische Hürden machen Gründungsgeschichten, wie man sie von US-Firmen kennt, hierzulande unmöglich. Aber auch der Mut, Fusionen und Übernahmen zuzulassen, um aus unseren herausragenden Mittelständlern starke europäische Champions zu erschaffen, anstatt in Staatsgremien Planwirtschaft zu betreiben, ist dringend erforderlich.

Dass EU-Universitäten in der Technologieforschung zu den weltweit führenden gehören, unterstreicht, dass wir auf dem Kontinent zwar noch über genügend kluge Köpfe verfügen. Der Bildungsstandard ist jedoch uneinheitlich, in großen Teilen ausbaufähig und investitionsbedürftig, was sich auch im weltweiten Gesamtvergleich zeigt: Laut dem anerkannten QS-Standard schaffte es z. B. keine einzige deutsche Universität unter die Top 20 weltweit.

Mut zu Europa

Unweigerlich müssten solche europäischen Großvorhaben gemeinsam von den EU-Staaten getragen werden. An einer mächtigeren und demokratischeren EU-Regierung führt dann kein Weg mehr vorbei. Genauso wenig wie an einem gemeinsamen Schuldentopf, der zu Recht skeptisch beäugt wird. Die Obergrenzen für die Staatsverschuldung, aber auch die Rechtsstaatlichkeitsklausel sollten strenger und endlich konsequent durchgesetzt werden, während das Wahlsystem dringend reformiert werden muss. Nur so können alle EU-Länder an einem Strang ziehen, bevor das Bündnis bedeutungslos wird.

All diese Forderungen dienen letztendlich aber nicht dem Selbstzweck. Sollte die europäische Wirtschaft deutlich konkurrenzfähiger werden, würde dies einen Wohlstandsgewinn bedeuten. Die Europäer hätten somit mehr Einkommen zur Verfügung, ihre eigenen Produkte und Dienstleistungen zu konsumieren. Für die EU, die mit ihren 27 Staaten und 450 Millionen Menschen über den weltweit größten gemeinsamen Wirtschaftsraum verfügt, wäre dies die Chance auf mehr Eigenständigkeit, von dem europäische Aktienanleger bislang nur träumen dürfen. Gemessen an der Marktkapitalisierung von unter zehn Prozent am Weltaktienmarkt, erscheinen EU-Firmen für Anleger beinahe irrelevant. Dagegen kommen die USA auf einen Marktanteil von mehr als 70 Prozent, obwohl sie über rund 100 Millionen weniger Einwohner verfügen.

Blickt man jedoch zurück auf das Taktieren und die Klientel- sowie Identitätspolitik im Bundestagswahlkampf, stellt sich die Frage, ob der Weckruf für die politischen Tiefschläfer auch laut genug ist. Deutschland sollte sich dringend trauen, wieder eine Führungsrolle in Europa einzunehmen und die EU hinter gemeinsamen Zielen zu vereinen. Dies würde unserem Staatenbündnis helfen, endlich auf der Weltbühne als größter gemeinsamer Binnenmarkt und starker globaler Player wahrgenommen zu werden. Allerdings würde dies zunächst voraussetzen, dass die Ministerämter der neuen Bundesregierung – auch über die eigenen Parteigrenzen und eigenen Befindlichkeiten hinaus – mit fähigen und einschlägig erfahrenen Experten der politischen Mitte besetzt werden, die auch notwendige, unpopuläre Veränderungen herbeiführen, die für das Land wichtig sind. Selbst dann, wenn man dadurch Gefahr läuft, Wähler zu verlieren. Denn darum geht es in der Politik leider schon lange nicht mehr. Fühlen Sie sich bitte angesprochen, Herr Merz!

Autor Tim Bröning ist Mitglied des Beirats der Fonds Finanz Maklerservice GmbH.

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