Es gab immer wieder vereinzelt Jahre, die aus Investorensicht ohne größere Dramen, Krisen oder Notenbankentscheidungen abliefen. Die vergangenen Kalenderjahre gehörten aber eindeutig nicht zu diesen ruhigen Phasen. Corona, Ukrainekrieg, Inflation, Zinswende und der Nahost-Konflikt – dies fasst nur einen kleinen Teil der Ereignisse zusammen, die die Märkte bewegten.
Gerade in Börsenphasen, in denen große Verunsicherung und ein Rezessionsrisiko herrschen, scheint es verlockend, den Investitionsgrad an den aktuellen Nachrichten auszurichten. Zumal erfolgreichen Market-Timern in der Theorie riesige Gewinne winken. Laut unserer hauseigenen Berechnungen hätten Anleger, die seit 1999 die zehn schlechtesten Börsenmonate mit dem rechtzeitigen Aus- und Wiedereinstiegen vermieden, ihre Einstandssumme am globalen Aktienmarkt fast verfünfzehnfacht. Buy-and-Hold-Anleger hätten „nur“ eine Verfünffachung geschafft. Die Krux: Das Timing funktioniert nur auf dem Papier.
Theorie trifft auf Realität
Wie schwierig das Timing in der Realität ist, zeigt sich an der aktuellen Marktlage. Während die EZB zuletzt eine erneute Zinswende einläutete, hielt sich die US-Fed bislang noch mit Leitzinssenkungen zurück. Zu groß ist offenbar das Risiko einer wiederaufflammenden Inflation. Eigentlich hatte die Anlegermehrheit noch zum Jahresstart auf frühere und zahlreichere Zinssenkungen gehofft. Bis zu sieben US-Zinssenkungen versprachen sich die Marktteilnehmer damals. Nun signalisierte die Fed für das laufende Jahr nur noch einen einzigen Zinsschritt. Der allgemeinen Investorenlogik nach, sollten die Marktteilnehmer davon enttäuscht und von der Ungewissheit über den Eintritt einer Rezession in den USA verunsichert sein. US-Aktien hätten demnach eigentlich längst korrigieren müssen.
Während die europäischen Börsen trotz einer ersten Zinssenkung Anfang Juni nachgaben, laufen NASDAQ-100 und S&P 500 aber von einem Allzeithoch zum nächsten. Das Ergebnis: Anleger, die davon ausgingen, dass die Fed aufgrund des Inflationsdrucks und des starken US-Arbeitsmarktes die Leitzinsen nicht senken würde, lagen zwar richtig. Doch wer aufgrund dieser Annahme seine US-Aktien verkaufte, verpasste seit Jahresanfang einen Anstieg von rund 15 %. Market-Timer hatten wieder einmal das Nachsehen.
Trotzdem ist immer wieder zu beobachten, dass Investoren in Verlustphasen verkaufen, nur um später auf deutlich höherem Niveau wieder einzusteigen. Unter anderem sind gerade unerfahrene Investoren vom sogenannten Dunning-Kruger-Effekt betroffen. Vor allem (Investment-)Anfänger gewinnen demnach mit steigendem Wissensgrad an Selbstbewusstsein. Investoren, die diesem psychologischen Effekt aufsitzen, treffen dann mit hoher Überzeugung falsche Entscheidungen, weil sie ihre Expertise und ihr Wissen völlig überschätzen. Diese falsche Selbstsicherheit verleitet viele Anleger immer wieder zum Market-Timing.
Eine erschreckende Datenlage
Doch auch erfahrene Investoren mit einer soliden Selbsteinschätzung können in ihren Annahmen noch so richtig liegen – ein unvorhergesehenes Ereignis genügt, um jegliche Aussicht auf Timing-Erfolg zu Nichte zu machen. Wer als Anleger nach den coronabedingten Lieferschwierigkeiten beispielsweise auf das schnelle Abflauen der Inflation wettete, der hatte die Rechnung ohne den Ukrainekrieg gemacht.
Laut einer einflussreichen Studie eines US-Fondsanbieters schafften es von 720 untersuchten Anlagestrategien historisch nur 30, den Markt erfolgreich zu timen. Dies entspricht einer Trefferquote von gerade einmal rund 4 %. Doch zeigte die Studie auch, dass diese Strategien anscheinend nur auf dem Papier funktionierten. Sobald die Studienautoren auch nur einen Parameter der Untersuchung geringfügig änderten, z. B. den Zeitraum, litten die jährlichen Renditen erheblich. Die erfolgreiche Outperformance war daraufhin nicht mehr statistisch nachweisbar.
Die zwangsläufigen Fehler beim Market-Timing werden in der Regel zudem hart bestraft, denn für Market-Timer ist es besonders entscheidend, den Wiedereinstiegszeitpunkt gewinnbringend zu treffen. Schon 2019 zeigte eine Untersuchung der Sutor Bank, dass DAX-Anleger, die über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren nur 13 der besten Börsentage verpassten, ihre Rendite mehr als halbierten.
Selbst wer den Ausstiegszeitpunkt perfekt trifft, dann aber den Einstieg verpasst, läuft somit Gefahr, statt Mehrerträgen nur Handelskosten zu produzieren. Auch den eklatanten Einfluss der Abgeltungssteuer haben viele Privatanleger nicht im Blick. Wer erfolgreich zum Kurshoch verkauft und daraufhin 25 % an den Fiskus zahlt, der muss folglich warten, bis der Kurs wieder um mehr als eine Viertel abstürzt, damit er mit dem gleichen Kapitalaufwand mehr Aktienanteile erhält als zuvor. Mit dem Finanzamt im Nacken wird das ohnehin zum Scheitern verurteilte Timing erst recht zum unerträglichen Lottospiel.
Jedoch gilt es zwischen dem Market-Timing und der strategischen Portfolioumstellung, einer Investmententscheidung aus fundamentaler Überzeugung und dem antizyklischen Rebalancing zu unterscheiden. Während das Timing darauf abzielt, kurzfristig eine bestimmte Entwicklung abzupassen, werden letztere drei Spielarten aus langfristig-strategischen Gesichtspunkten genutzt und basieren meist auf wissenschaftlich belastbaren Erkenntnissen. Auch diese Vorgehensweisen können zufällig unter schlechtem Timing leiden, angesichts des langfristigen Zeitraums über den sie ihre ideale Wirkung entfalten sollen, rückt der vermeintlich schlechte Einstiegszeitpunkt aber in den Hintergrund.
Investmententscheidungen verdienen Geduld
Folgendes Beispiel ist wertungsfrei zu verstehen, denn es bezieht sich auf eine mittlerweile extrem teuer bewertete KI-Aktie. Und doch illustriert es den Unterschied zwischen einem echten Investment und Market-Timing: Wer Anfang Oktober 2018 aus fundamentaler Überzeugung NVIDIA-Aktien kaufte, der musste fast zwei Jahre in der Verlustzone warten, bis die Aktie wieder nachhaltig über den Einstandskurs kletterte. Ähnlich erging es Anlegern, die 2021 einstiegen und erst letztes Jahr in der Gewinnzone ankamen. Das anfangs schlechte Timing wurde über die Zeit bedeutungslos.
Von Warren Buffett über Benjamin Graham, Thomas Rowe Price, John Templeton oder Jack Bogle: Es ist kein Zufall, dass die erfolgreichsten und einflussreichsten Investoren allesamt als Buy-and-Hold-Anleger in die Geschichtsbücher eingegangen sind. „Die Hall of Fame der Market-Timer ist ein leerer Raum“, brachtes es schon vor vielen Jahren die US-Finanzjournalistin Jane Bryant Quinn auf den Punkt.
Autor Tim Bröning ist Mitglied des Beirats der Fonds Finanz Maklerservice GmbH.