Die Geduld hat sich ausgezahlt. So lässt sich das jüngste Statement des US-Federal-Reserve-Chefs Jerome Powell zusammenfassen. Die einflussreichste Notenbank der Welt hatte kurz zuvor beschlossen, die Leitzinsen um 0,5 Prozentpunkte zu senken, sodass die wichtige Federal Funds Rate in den USA nun in einer Spanne von 4,75 Prozent bis 5 Prozent rangiert. Die Fed hat nach einigem Zögern nun nicht weniger als einen neuen Zinssenkungszyklus eingeleitet, so muss man Powells Aussage verstehen. Die Notenbanker der Fed signalisieren sogar, dass der Leitzins bis Jahresende noch weitere 0,5 Prozentpunkte tiefer stehen wird.
Anleger führt die Notenbankentscheidung jedoch an einen Scheideweg. Dass die Aktienmärkte nach Zinssenkungen per se steigen, ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Historische Daten zeigen: Je nachdem, wie sich die US-Wirtschaft in den nächsten zwölf Monaten nach einer Zinssenkung entwickelte, hatte die erste Zinssenkung in einem neuen Zyklus positive oder negative Folgen für die Aktienbörsen. Bei einer Rezession brachen die Märkte ein und eine weiche Landung führte zu steigenden Kursen.
Investoren feiern die Zinssenkung
Bei Anlegern rief der jüngste Zinsschritt zunächst uneinheitliche Reaktionen hervor. Am Abend der Entscheidung schlossen die Märkte leicht im Minus. Am Folgetag machte sich dann Optimismus breit und nicht nur der S&P 500, sondern auch der MSCI World und sogar der DAX schwangen sich zu neuen Höchstständen auf. Wer sich an die Markterwartungen von bis zu sieben Zinssenkungen vom Jahreswechsel erinnern kann, der darf sich über die große Euphorie wundern.
Offenbar hatte der deutliche Zinsschritt auch einen kleinen Überraschungseffekt, obwohl sich dieser nicht negativ in den Kursen niederschlug. Während die Mehrheit der Investoren die 0,5-Prozentpunkte erwartet hatte, waren die meisten Marktstrategen großer Geldhäuser von einem kleineren Zinsschritt ausgegangen. Goldman Sachs, Morgan Stanley und die Deutschen Bank, hatten beispielsweise nur mit einem halb so großen Zinsschritt gerechnet.
Vielen Marktanalysten hatten den kleineren Zinsschritt im Vorfeld als unproblematischer erachtet und befürchtet, dass der 0,5-Punkte-Schritt Panik bei Anlegern auslösen würde. Man hätte die jüngste Fed-Entscheidung auch als Notfallmaßnahme gegen die Anfänge einer Wirtschaftsschwäche deuten können.
Ging die Fed auf Nummer sicher?
Einige Experten fürchten sogar, dass die Notenbank wieder einmal viel zu spät auf Warnsignale wie beispielsweise den Anstieg der US-Arbeitslosigkeit um rund eine Million Menschen seit August 2023, den Rückgang der Sparraten und den Anstieg der Kreditkartenschulden reagierte. Zumal es mittlerweile unstrittig ist, dass die Fed den Inflationsanstieg 2021 unterschätzt und verschlafen hatte. Möglicherweise wollte die Notenbank nun auf Nummer sicher gehen und einen Börsencrash kategorisch in diesen ohnehin historisch schlechten Börsenmonaten ausschließen. So will sie den Optimismus und die Kauflaune der Konsumenten zu erhalten. Mit der Zinssenkung schwächt die Fed – sozusagen als Sofortmaßnahme – zudem unmittelbar den Dollar und eilt dadurch der US-Exportwirtschaft zu Hilfe.
„Ja, wir haben geduldig gewartet. Nein, wir sind nicht zu spät“, heißt es aber diesmal von Powell. Die Vehemenz der Zinsentscheidung bedeute nicht, dass man zu spät handele, wie es einige Ökonomen unterstellen. Man wolle damit aber die Verpflichtung unterstreichen, die Wirtschaft früh genug zu stützen.
Die Realität mancher US-Firmen könnte der Einschätzung widersprechen. So berichtete z. B. der Paketlieferant FedEx einen Rückgang der Nachfrage und spricht von einem kommenden Wirtschaftseinbruch. Noch scheint das als Konjunkturindikator angesehene Unternehmen ein Einzelfall zu sein. Es könnte sich aber herausstellen, dass Powell mit seiner positiven Rhetorik die Anzeichen einer weitreichenderen Wirtschaftsschwäche überspielt. Jedoch dürfen Anleger bezweifeln, dass er das Wunschszenario einer weichen Landung notfalls herbeireden kann.
Und noch eine gute Nachricht hatte der Fed-Chef parat. Die Inflation sei besiegt, lautete sie. Bereits im Vorfeld der Sitzung war von den Fed-Mitgliedern zu vernehmen, dass die Inflationsraten nicht mehr das Hauptaugenmerkt der Notenbanken darstellen, sondern die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt. Es bleibt zu hoffen, dass die Fed – entgegen ihrer Aussage – die Inflation nach dem Zinsentscheid genau im Blick behält. Denn es war vor allem der Rückgang der konjunktursensiblen Ölpreise, der den Preisdruck dämpfte, während die Kerninflationsrate sogar leicht stieg.
Empfindliche Reaktionen bei Enttäuschungen
Trotzdem hängen die Aussichten für Anleger in nächster Zeit vor allem von der Wirtschaftsentwicklung in den USA ab und wie sehr Unternehmen ihr Gewinnwachstum aufrechterhalten können. Dass die Fed mit ihrem Zinsschritt so manche ohnehin hohe Aktienbewertung noch weiter aufbläht, ist besorgniserregend.
Wie empfindlich die Anleger in einem Umfeld der Euphorie auf Enttäuschungen reagieren, zeigte sich bereits vor der Notenbankentscheidung an der NVIDIA-Aktie. Das Unternehmen hatte seine Umsatzerwartungen im August zwar übertroffen, jedoch nicht spektakulär genug, um die Anleger bei Laune zu halten. Dies führte zu einem zwischenzeitlichen Wertverlust von 38 Prozent.
Die Anlegermehrheit erwartet jedenfalls eine weiche Landung und weiter steigende Aktienkurse. Passend dazu floss in letzter Zeit immer weiter Geld aus Mischfonds ab, während reinen Aktienfonds zuletzt Mittel zuflossen. Ob die Wirtschaft den Plan der Anleger mitspielt, lässt sich derzeit kaum seriös voraussagen. Ein gegenteiliges Szenario hätte aber einen massiven Überraschungseffekt. Wer dem Optimismus misstraut, ist gut beraten, dem ausbalancierten Portfolio mit einem Mix aus globalen Aktien, Anleihen und Edelmetallen treu zu bleiben. Je nach Risikoneigung brachte eine solche Strategie Anlegern gegenüber reinen Aktieninvestments bekanntlich langfristig konkurrenzfähige Renditen bei geringeren zwischenzeitlichen Verlusten ein. Wer hingegen mit seinem Aktienportfolio ganz an seine Schmerzgrenze geht, um das meiste herauszuholen, dem ist besonders zu wünschen, dass Jerome Powell Recht behält. Der Notenbanker würde sich damit einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern, denn er wäre der erste Fed-Chef in rund 30 Jahren, dem die weiche Landung gelänge. Notenbanker werden oft kritisiert, aber in diesem Fall drücken ihnen wohl alle die Daumen.
Autor Tim Bröning ist Mitglied des Beirats der Fonds Finanz Maklerservice GmbH.