Das Ausmaß der negativen wirtschaftlichen Auswirkungen wird von den weiteren militärischen und politischen Ereignissen des Krieges abhängen, die sich auf verschiedene unbekannte Weise entwickeln können. Unser zentrales Szenario geht von langwierigen Kämpfen und anhaltenden Sanktionen aus. Wir gehen davon aus, dass der Preis für Öl und Gas länger auf einem höheren Niveau verharren wird. Der Stagflationsdruck wird in Europa besonders akut sein, da 57,5 % des Bruttoenergiebedarfs der EU durch Importe gedeckt werden. Wir haben unsere kumulierten Wachstumsprognosen 2022/23 für den Euroraum um 2,4 Prozentpunkte gegenüber unserer Januar-Prognose korrigiert, vor allem wegen der Auswirkungen des Krieges. Auch werden die USA und in geringerem Maße China betroffen sein. Viele arme Länder, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, werden die steigenden Lebensmittelpreise zu spüren bekommen, was nicht nur das Risiko für das Wachstum, sondern auch für soziale Unruhen erhöht.
In einem ungünstigen Szenario einer weiteren deutlichen militärischen Eskalation und strafenden Sanktionen einschließlich russischer Gas- und Ölexporte, würden die Energiepreise weiter in die Höhe schießen. Das Eurogebiet stünde vor einer beträchtlichen Rezession in diesem Frühjahr/Sommer. Erweiterte fiskalische Unterstützung würde diesen Effekt nur teilweise abmildern. Eine überschießende Inflation wird den Zentralbanken weitgehend die Hände binden, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Die meisten würden ihre hawkishe Position aufweichen, aber nur moderat, um nicht die Kontrolle über die Preise zu verlieren.
Euroraum im Zentrum der kriegsbedingten wirtschaftlichen Auswirkungen
Der russische Krieg gegen die Ukraine hat die EZB weiter in ein Dilemma gestürzt. Einerseits verstärken die in die Höhe geschossenen Energie- und Rohstoffpreise den ohnehin schon hohen Inflationsdruck, der weiter anhalten wird. Import-, Erzeuger- und Rohstoffpreise sowie Konjunkturumfragen deuten auf einen unverminderten Inflationsdruck hin. Und da der Arbeitsmarkt in guter Verfassung ist, sehen wir das Potenzial für deutlich steigende Löhne. Andererseits rechtfertigt die sich abzeichnende starke Verlangsamung eher eine Lockerung als eine Straffung der Politik. Auch die Finanzierungsbedingungen haben sich aufgrund der aggressiveren Haltung der Fed verschlechtert.
In diesem Dilemma erwarten wir, dass die EZB mit Vorsicht vorgehen wird. Sie wird ihre Anleihekäufe wahrscheinlich im dritten Quartal 2022 beenden, aber erst im Dezember handeln(durch eine Anhebung um 25 Basispunkte), wenn sich die Wirtschaftstätigkeit wieder verbessert und die Erwartung höherer Löhne eintritt. Danach erwarten wir eine weitere maßvolle Normalisierung der Politik. Die Risiken sprechen eindeutig für eine frühere erste Zinserhöhung, z. B. aufgrund hohen der Inflationserwartungen. Umgekehrt sind die Hürden für ein Nichthandeln oder gar eine Verlängerung der quantitativen Lockerung hoch. Es bräuchte unserer Ansicht nach eine tiefe Rezession, um die EZB daran zu hindern, auf das erheblich veränderte Inflationsumfeld zu reagieren.
USA: Das Versprechen der Fed, die Inflation zu bändigen, wird durch Abschwächungsrisiken auf die Probe gestellt
US-Firmen sind kaum in Lieferketten eingebunden, die die Ukraine oder Russland einschließen. Das Land ist auch fast autark in der Energieversorgung, so dass die direkten Auswirkungen des Krieges weniger akut sind als in Europa. Allerdings wird der Anstieg der bereits stark gestiegenen Rohstoffpreise den Inflationsdruck noch verstärken. Mit mehr als 1,7 verfügbaren Arbeitsplätzen pro Arbeitslosen ist der Arbeitsmarkt extrem angespannt. Rasch steigende Löhne können zu einer Beschleunigung der Mieten führen und die anhaltenden Auswirkungen von Versorgungsengpässen erhöhen die Warenpreise. Die Kerninflation erreichte im Februar 6,1 % und wird voraussichtlich auf diesem Niveau bleiben oder sogar leicht ansteigen für das nächste Quartal. Wir gehen nicht davon aus, dass sie bis zum Jahresende unter 4,5 % fallen wird.
Da sich die Anzeichen häufen, dass die starke Inflation nur zum Teil auf vorübergehende Faktoren zurückzuführen ist, hat sich die Fed bemüht, ihre Verpflichtung zu bekräftigen, den Preisanstieg zu kontrollieren. Nach der Zinserhöhung um 25 Basispunkte im März rechnet sie nun mit einer Erhöhung des Leitzinses um insgesamt 175 Basispunkte in diesem Jahr, wobei ein erhebliches Risiko für weitere Zinserhöhungen besteht, die vor allem in der ersten Hälfte des Jahres eintreten könnten.“
Autoren sind Thomas Hempell, Head of Macro & Market Research, Christoph Siepmann, Martin Wolburg und Paolo Zanghieri, alle Senior Economists bei Generali Investments