Große Rentnerjahrgänge, eine schrumpfende Zahl von Beitragszahlern, steigende Lebenserwartungen – Politik, Experten und Bevölkerung ist klar, dass die gesetzliche Rentenversicherung vor umfassenden Reformen steht. Und trotzdem hat sich die Ampelkoalition nahezu jeden Reformspielraum genommen. Wesentliche Stellschrauben, um den demographischen Entwicklungen Rechnung zu tragen, schreibt sie nämlich in ihrem Koalitionsvertrag als unveränderlich fest. Das entspricht zwar den Wünschen der Bevölkerung, doch der Zweckoptimismus ist unrealistisch. Die Gestaltungsoptionen sind äußerst beschränkt.
Der Koalitionsvertrag setzt der Bundesregierung bei der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung klare Grenzen: Das Rentenniveau soll nicht abgesenkt werden. Der Beitragssatz darf 20 Prozent nicht überschreiten. Und das Renteneintrittsalter soll nicht über 67 Jahre ansteigen. Es ist davon auszugehen, dass das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales sich an diese Vorgaben halten wird – was auch Arbeitsminister Heil erst kürzlich öffentlichkeitswirksam bestätigt hat.
Kein Rückhalt von Wissenschaft und Experten für die Rentenpläne der Regierung
Damit wird es in der laufenden Legislaturperiode kaum zu einer wirklichen Reform kommen, um der demographischen Herausforderung zu begegnen. Dies steht im Widerspruch zur nahezu einhelligen Auffassung von renommierten Experten: Ob „Wirtschaftsweise“, Bundesbank oder das Munich Center for the Economics of Aging – alle heben hervor, dass das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung in seiner derzeitigen Form sehr bald an seine Grenzen stoßen wird. Als Grund für eine sich weiter öffnende Schere zwischen Rentenbeiträgen und benötigten Rentenmitteln wird auf die unheilvolle Kombination aus dem anstehenden Renteneintritt der geburtenstarken Babyboomer, den kleineren Generationen nach dem Pillenknick und den dank besserer Ernährung, gesünderem Lebenswandel und medizinischem Fortschritt weiter steigenden Lebenserwartungen verwiesen. Deshalb seien Reformen unvermeidlich, die auch das Rentenniveau, den Beitragssatz und das Renteneintrittsalter einbeziehen.
Solche Einschnitte für Rentnerinnen und Rentner genießen in der Bevölkerung eher begrenzte Beliebtheit – das zeigen die Forschungsergebnisse des DIVA, und das weiß auch die Politik. Im Rahmen unseres regelmäßigen Altersvorsorge-Index (DIVAX-AV) befragen wir rund 2.000 Bürgerinnen und Bürger auch zu ihren Vorstellungen und Wünschen zu der im Koalitionsvertrag vereinbarten Rentenreformpolitik. Wenn es darum geht, wie die gesetzliche Rente stabil gehalten werden soll, spricht sich eine überwältigende Mehrheit für wie auch immer finanzierte höhere Bundeszuschüsse in die Rentenkasse aus. Lediglich 12,3 Prozent der Befragten befürworten eine Stabilisierung der gesetzlichen Rente durch Absenkung des Rentenniveaus. Noch weniger (10,3 Prozent) würden die Anhebung des Renteneintrittsalters über 67 Jahre hinaus akzeptieren.
Der Bürgerwunsch des „Alles bleibt beim Alten“: Überoptimistisch bis unrealistisch
Auch wenn die Rentenreform, oder eher deren Abwesenheit, in der Bevölkerung deutlichen Anklang findet – es schwingt zu viel Hoffnung mit: auf langfristig gute Konjunktur und steigende Löhne, auf einen hohen Beschäftigungsgrad und viele Beitragszahler, auf Mobilisierung und Zuwanderung weiterer Erwerbstätiger. All diese Faktoren würden die Einnahmen der Rentenversicherung und das Umlageverfahren stärken.
Die Experten warnten schon vor Pandemie und Ukrainekrieg: Zu viel des Optimismus! Die aktuellen geopolitischen Verwerfungen und schwindenden Wachstumsperspektiven machen nun endgültig die Hoffnungen auf eine Selbststabilisierung des Rentensystems zunichte. Dass in den nächsten Jahren Wirtschaftszahlen erreicht werden können, die das Umlageverfahren auf heutigem Niveau stabilisieren, wird zusehends unwahrscheinlicher.
Bleibt die Frage, wie die künftige Rente ohne direkte Einschnitte für Rentnerinnen und Rentner finanziert werden soll. In unserer Umfrage sagen die Bürgerinnen und Bürger: Bundeszuschüsse sollen es richten. Zur Gegenfinanzierung bevorzugt knapp die Hälfte (46,2 Prozent) Einsparungen bei anderen staatlichen Leistungen. Ein Drittel würde zusätzliche Schulden und 23,1 Prozent Steuererhöhungen befürworten. Wie realistisch sind diese Optionen?
Kreditfinanzierte Rente als Ausweg?
Blicken wir zunächst auf mögliche Einsparungen bei anderen Staatsleistungen. Die Investitionsbedarfe sind in fast allen Bereichen groß, Einsparungen kaum durchsetzbar. Ob Klimawende, Militär, Digitalisierung, Bildung oder Infrastruktur – auch diese großen Ausgabenblöcke neben der Rentenkasse haben nach den Plänen der Ampelregierung steigenden Finanzbedarf, Kürzungen sind faktisch ausgeschlossen.
Und wie sieht es mit der Finanzierung durch Steuererhöhungen aus? Sie hätten lediglich einen Verschleierungseffekt, denn allgemeine Steuererhöhungen und Beitragsanhebungen der Rentenversicherung treffen im Wesentlichen dieselben breiten Bevölkerungskreise. Beide Optionen beschneiden zudem die verfügbaren Einkommen. Was wäre also eine Beitragssatzgrenze bei 20 Prozent wert, wenn auf der anderen Seite die Steuern steigen?
Bleibt noch die Möglichkeit einer teilweise kreditfinanzierten gesetzlichen Rente – sofern dies mit der Schuldenbremse in Einklang zu bringen ist. Nachfolgende Generationen würden dann nicht mit Beitragssteigerungen belastet werden, müssten aber die zusätzlichen Staatsschulden bedienen.
Auch die im Koalitionsvertag vereinbarte Aktienrente hilft nicht aus dem akuten demografischen Dilemma des gesetzlichen Rentensystems. Erstens braucht sie Jahre und Jahrzehnte, um Wirkung zu entfalten. Zweitens soll sie aus den bestehenden Beitragssätzen abgezweigt werden, macht also keine zusätzlichen Mittel verfügbar. Die geplante Anschubfinanzierung von zehn Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt ist immerhin ein Zeichen guten Willens. Angesichts der Finanzlücke des gesetzlichen Rentensystems aber auch nicht mehr.
Prof. Dr. Michael Heuser ist Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Institut für Vermögensbildung und Alterssicherung, Marburg.