Gewerbeversicherungsmarkt 2023: „Die Situation ist herausfordernd wie schon lange nicht mehr“

Michael Neuhalfen
Foto: Alte Leipziger
Michael Neuhalfen: „Unterversicherung hat da keinen Platz.“

Die Coronapandemie gerade überstanden, stellen die Folgen des Ukraine-Kriegs mit massiven Preissteigerungen bei Energie, Werkstoffen oder Dienstleistungen sowie hohe Inflationsraten und steigende Cyberattacken die Gewerbeversicherer und Kunden vor neue Belastungsproben. Cash. sprach mit Michael Neuhalfen, Leiter Vertrieb Alte Leipziger Versicherung AG, über Gewerbeversicherer, Vermittler und Kunden im neuen Spannungsfeld.

Herr Neuhalfen, wie groß ist derzeit das Interesse bei den kleinen und mittleren Unternehmen an einer Gewerbeversicherung? 

Neuhalfen: Die Marktsättigung ist traditionell hoch, die meisten Unternehmen verfügen über den notwendigsten Haftpflicht- und Sachversicherungsschutz. Die Gewerbeversicherung ist aber sehr vielschichtig mit vielen Spezial- und Sondersparten. Wegen der Dynamik in der Produktentwicklung, aber auch den Veränderungen in den Unternehmen selbst, ist aber auch die laufende Prüfung der Verträge und daher manchmal auch ein Versichererwechsel üblich. Das prägt das nicht-private Geschäft seit jeher. Da Unternehmer mit Unternehmern sprechen, ist es ein anspruchsvolles und sehr interessantes Geschäftssegment.

Die Coronapandemie überstanden, hat der Ukraine-Krieg zu massiven Preissteigerungen bei Energie, Werkstoffen oder Lebensmitteln geführt. Viele Firmen ächzen unter den Mehrbelastungen. Haben Sie dies auch in der Gewerbeversicherung gespürt? 

Neuhalfen: Ob die Pandemie wirklich überstanden ist, bleibt noch abzuwarten. Jedenfalls sieht es nach einem Übergang zu einer Endemie aus. Hoffen wir gemeinsam, dass uns keine neue Welle oder Virusvariante bevorsteht. Und ja, die Unternehmen spüren die seit März 2022 massiv gestiegenen Preise auf der Beschaffungsseite und die zusätzlichen Probleme aus Lieferschwierigkeiten. Andererseits gibt es auch Unternehmen und Branchen, deren Preissteigerungen – die auch wir als private Verbraucher spüren – nicht ohne weiteres durch Krieg und Inflation zu erklären sind. Manche verzeichnen erstaunliche Umsatz- und auch Ergebnisrekorde. Es gibt kein einheitliches Bild in dieser Situation und der Markt tut das Seine dazu. Gleichwohl ist Versicherungsschutz für Unternehmen unverändert wichtig, vielleicht sogar in manchen Bereichen der Risikovorsorge wichtiger denn je. Denn Unternehmen sind störanfälliger geworden und manche eigene Finanzreserven sind in den Pandemiejahren reduziert oder gar aufgezehrt worden. Externe Risikofinanzierung kann im Schadenfall das Überleben sichern. Wir verzeichnen ungebrochen eine stabile Nachfrage und spüren zusätzlich gestiegene Attraktivität im Vermittlermarkt. Als mittelgroßer Versicherer sind wir offenbar nah an den oftmals ebenso mittelständisch geprägten Vermittlern und deren Kunden dran. Das zeigt sich an robusten Steigerungsraten im Neugeschäft, die ein in diesem Aspekt sehr erfreuliches 2022 spiegeln. 

Infolge der massiven Inflation und den damit verbundenen Preissteigerungen dürften die Versicherungssummen bei vielen Verträgen wie für Maschinen oder Gebäude nicht mehr passen. Welche Folgen ergeben sich hieraus im Schadensfall? 

Neuhalfen: Das ist absolut richtig und zwingt alle Beteiligten zum Handeln. Versicherungsnehmer, deren Vermittler, aber auch wir als Risikoträger sind aufgerufen, uns darum zu kümmern. In der Sachversicherung – vor allem für Gebäude, Einrichtung, Vorräte – gibt es das sogenannte Vollwertprinzip. Kurz gesagt muss die Versicherungssumme in der Police mindestens dem Wiederbeschaffungswert im Schadenzeitpunkt entsprechen. Tut sie es nicht, greift die bekannte Unterversicherung und der Versicherungsnehmer erleidet Substanzverluste, da Schäden – unabhängig davon, ob es ein Teil- oder Totalschaden ist – nur noch reduziert entschädigt werden können. Und wir spüren deutlich höhere Wiederbeschaffungs- und Wiederherstellungskosten als im Vorjahr. Baustoffe und Handwerkerdienstleistungen sind weitaus teurer geworden, von der Mangelsituation ganz abgesehen. Diese Steigerungsraten liegen oft erheblich über der offiziellen Inflationsrate, die ja nur den allgemeinen Warenkorb statistisch abbildet. Wenn die Versicherungssumme nicht angepasst und erhöht wird, droht die besagte Unterversicherungsfalle. Hier ist Sensibilität beim Kunden, aber auch aktive Beratung und fachliche Unterstützung des Vermittlers dringend gefordert.

Ist den Kunden die Problematik bewusst und was empfehlen Sie Vermittlern? 

Neuhalfen: Die Inflation ist jedem bewusst, sie wird täglich erlebt, die Folgen für die notwendigen Anpassungsmaßnahmen nur ungenügend. Aber dafür hat der Kunde ja den Vermittler seines Vertrauens, der hoffentlich genug Expertise und Kundennähe besitzt, um das Thema zu besprechen. Die wichtigste Empfehlung kann daher nur sein aktiv auf den Kunden zuzugehen, um ihn zu informieren, die tatsächliche Problemstellung zu analysieren und dann – wenn es nötig ist – die richtigen Anpassungsschritte vorzunehmen. Das Ziel ist unverändert der optimale Versicherungsschutz, und da hat Unterversicherung keinen Platz!

Stichwort Schadeninflation: Wie hoch sind die Beitragsanpassungen aufgrund der deutlichen Inflationsraten für die Gewerbeversicherung? 

Neuhalfen: Es gibt keinen allgemeinen Anpassungssatz für die verschiedenen Sparten des gewerblich und industriellen Kompositversicherungsgeschäfts. Für das Versicherungsjahr 2023 sehen wir aber schon die ersten Auswirkungen des Jahres 2022 und den Preissteigerungen für Güter und Dienstleistungen. Wir sprechen über die Inflationsrate oder gar mehr bis 15 Prozent. Wirklich zuschlagen wird das Thema aber vermutlich erst 2024, wenn die Teuerung des gesamten Jahres 2023 seit Januar beobachtet wird und die unabhängigen Treuhänder und Aktuare im Herbst neue Anpassungssätze verkünden werden. Sofern sich die Inflation nicht sofort auflösen sollte – was leider nicht zu erwarten ist – werden wir höhere Anpassungssätze sehen als aktuell.

Gleichwohl gibt es hier ja ein Spannungsfeld, denn nicht jedes Unternehmen wird die höheren Prämien problemlos zahlen können.

Neuhalfen: Das stimmt, erschwerend kommt dazu, dass auch für uns als Versicherer der Rohstoff deutlich teurer geworden ist. Bei uns ist das Risikotragung und Einkauf von Rückversicherungsschutz. Storno, also Beendigung des Versicherungsschutzes, ist allerdings das letzte Mittel für den Kunden. Der Verzicht auf externe Risikotragung und bei Großschäden oftmals damit Überlebenssicherung, kann eine sehr teure Sparmaßnahme sein und manchmal dann eine fatale Fehlentscheidung. Besser und sehr zu empfehlen ist die kritische Beschäftigung mit den Risiken des Unternehmens. Welche Risiken sind existenzbedrohend, die müssen versichert sein. Um Beiträge zu reduzieren kann eine angemessene Eigentragung für den Kleinschadenanteil überlegenswert sein. Welche Risiken sind schmerzlich, aber tragbar, wenn es passiert? Da kann der Verzicht auf Versicherungsschutz leichter entschieden werden. Und welche Versicherungen bestehen aus alter Zeit noch, sind aber nicht (mehr) existenziell? Diese Risiko-Analyse sollte ohnehin regelmäßig gemeinsam mit dem Vermittler erfolgen. Auch der Versicherer kann wertvolle Impulse und Empfehlungen geben. Bisher können wir noch kein auffälliges Mehr an Storni erkennen. Aber wir stehen wohl erst am Anfang eines langen Weges. 

Stichwort Cybersicherheit. Die Zahl der Cyberangriffe hat im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand erreicht. Opfer sind vor allem auch die KMU. Welche Erfahrungen haben Sie als Versicherer mit dem Fokus auf den Mittelstand hier gemacht? Hapert es wirklich an der Sensibilität? 

Neuhalfen: Cyberrisiken und deren Versicherung ist ein vergleichsweise junges Thema und damit bei Kunden und Vermittlern noch nicht so gewohnt und vertraut wie die klassische Feuerversicherung. Aber Cyber gehört in der digitalen Welt mittlerweile dazu. Auch hier gilt der bewährte Rat sich mit den Themen eingehend zu beschäftigen, Risikoanalyse zu betreiben und dann eine Entscheidung für Abwälzung und Versicherung oder Eigentragung zu treffen. Auch das ist Unternehmertum. 

Nach einer Konjunkturumfrage des Deutschen Industrie und Handelskammertags (DIHK) unter mehr als 24.000 Betrieben waren noch nie so wenig Unternehmen optimistisch gestimmt wie im Spätherbst 2022. Lediglich acht Prozent erwarten, dass sich ihre wirtschaftliche Situation verbessert. Welche Erwartungen haben Sie für das Gewerbeversicherungsgeschäft der ALH?

Neuhalfen: Die allgemeine Situation ist fraglos so herausfordernd wie schon lange nicht mehr. Mit der angemessenen Strategie, den richtigen Fähigkeiten und der Nähe zum Kunden und Vermittler, ist aber auch dies zu bestehen. Wir bei der ALH-Gruppe gehen selbstbewusst und zuversichtlich in das neue Jahr, auf dass die positive Entwicklung fortgesetzt wird.

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