Herr Schoeller, Sie haben am 1. Juli 2020 den Vorstandsvorsitz der Gothaer übernommen. Die Entscheidung, Sie zum Vorstandsvorsitzenden zu machen, ist ja deutlich früher gefallen. Was ging Ihnen als designierter Vorstandsvorsitzender durch den Kopf, als sie realisierten, dass die Übernahme des Vorstandsvorsitzes genau in eine Pandemie mit kaum absehbaren Folgen fällt?
Schoeller: Natürlich wünscht man sich andere Startvoraussetzungen. Einerseits möchte man Menschen um sich versammeln, um gemeinsam die Richtung für das Unternehmen zu entwickeln. Andererseits: In der historischen Einordnung der 200jährigen Geschichte der Gothaer sollte man die Krise nicht überbewerten. Das Unternehmen hat schon deutlich größere Herausforderungen bewältigt.
Darunter nur 22 Jahre nach Gründung des Unternehmens den große Brand in Hamburg, der 1842 weite Teile der Hamburger Innenstadt zerstörte. Diese war in weiten Teilen von der Gothaer versichert. Danach kamen unter anderem große Sozialreformen, zwei Weltkriege, zwei Währungsreformen. In diesem Kontext ist die Pandemie in ihrer ökonomischen Wirkung auf die Gothaer eine der beherrschbaren Krisen.
Das lässt uns Raum, uns insbesondere auf unsere Kunden und unsere Vertriebspartner zu konzentrieren. Hier liegt mein voller Respekt, denn die Herausforderungen sind hier in Teilen substantiell. Bislang ist es uns gut gelungen, unsere Stakeholder zu unterstützen und zu begleiten. Das verbindet sich dann mit der Amtsübernahme zu einem positiven Erlebnis – in dieser Gemeinschaft solche Herausforderungen zu bewältigen. In Summe also ein spannender, ungewöhnlicher und erfolgreicher Start.
Wie das Geschäftsjahr 2020 ausgehen wird, wissen wir noch nicht exakt. 2019 war dagegen für die Gothaer ein exzellentes Jahr. Das Plus in der Lebensversicherung lag bei 11,4 Prozent. In der Sachversicherung bei 4,6 Prozent. Und die Krankenversicherung ist um drei Prozent gewachsen. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?
Schoeller: Wir haben sehr früh begonnen, die Resilienz der Gothaer gegenüber exogenen Faktoren zu stärken, insbesondere gegenüber dem Niedrigzinsszenario. Wir haben bereits 2015/2016 unser Lebensversicherungsportfolio umgestellt und Risiken aus der Kapitalanlage herausgenommen sowie das Asset-Liability-Management verbessert.
Hinzu kommt, dass unser Geschäftsmodell insbesondere im Firmenkundengeschäft gut auf die Bedürfnisse des Mittelstands passt: Unsere Stärke liegt in individuellen Risikokonzepten verbunden mit einer hohen Underwriting-Kompetenz auf Seiten der Gothaer. Nicht zuletzt deshalb sind wir einer der führenden Partner des Mittelstands.
Das gilt nicht nur für das Kompositgeschäft, sondern auch für die betriebliche Altersversorgung und die betriebliche Krankenversicherung. Und letztlich gibt es auch marktbeeinflussende Faktoren in der Industrieversicherung – dort sind die Preise deutlich angezogen – auch das sorgt für eine verbesserte Ertragskraft. Das sind die wesentlichen Treiber. Der positive Trend hat sich im ersten Quartal 2020 fortgesetzt, auch das war exzellent.
Wie kommt die Gothaer durch die Krise?
Schoeller: Wir haben die Ernsthaftigkeit der Krise zum Glück früh erkannt. Wir waren bereits im Januar für den „unternehmerischen Patienten Null“, den Automobilzulieferer Webasto, als Gesundheitsdientsleister tätig und haben ihn unterstützt, die erste Virus-Infektion in einem deutschen Unternehmen zu bewältigen. Im Übrigen ein exzellentes Krisen-Management der dortigen Unternehmensführung.
Dadurch haben wir sehr früh verstanden, was ein solcher Virus in einem Unternehmen anrichten kann und konnten frühzeitig Ableitungen für unser eigenes Unternehmen vornehmen. Auf der Absatzseite sind Komposit- und Krankenversicherung bislang gut durch das Jahr gekommen. Hinzu kommt noch, dass wir mit der AOK einen neuen, sehr starken Kooperationspartner im Bereich Krankenzusatzversicherungen gewinnen konnten.
Die Lebensversicherung hat die Pandemie dagegen härter getroffen. Erstens gibt eine grundsätzliche Zurückhaltung der Menschen beim Thema langfristige Altersvorsorge. Und zweitens ist gerade in der betrieblichen Altersversorgung der Zugang zu den Unternehmen in den gegenwärtigen Zeiten schwieriger.
Eine Versicherung lebt von der persönlichen Beratung. Der erste Lockdown hatte hier einen Riegel vorgeschoben. Nun der zweite Shutdown. Lassen sich die Folgen absehen?
Schoeller: Die erste Erkenntnis war, dass wir als Familie mit unseren Vertriebspartnern zusammenbleiben wollen. Was auch immer es braucht. Wir haben klar signalisiert, dass wir auch ökonomisch unterstützen und nach der Krise weiter gemeinsam die Zukunft gestalten wollen. Das hat dazu geführt, dass sich die Vermittler auf die Betreuung und Beratung ihrer Kunden fokussieren konnten.
Wir haben aber schon gespürt, dass es Unterschiede in der Digitalaffinität gibt. Sowohl auf Seiten der Vermittler, aber auch bei den Kunden. Es hat daher ein wenig gebraucht, bis alle wieder auf hohem Niveau waren. Wir arbeiten aber mittlerweile flächendenkend mit Videoberatung, der Dialog funktioniert wieder, bei Privat- und auch bei Unternehmerkunden.
Die entscheidende Frage ist, wie sich die ökonomische Krise fortsetzt. Das macht mir die größeren Sorgen. Insbesondere kann man heute noch nicht absehen, in welchem Umfang es zu Insolvenzen kommen wird und wie gravierend die Umbrüche sein werden, die sich aus der Krise entwickeln.
Wir erleben als Folge der Pandemie eine massive Digitalisierung in allen Bereichen. Wie stark beeinflusst diese Veränderung die Branche?
Schoeller: Die Digitalisierung verändert alles. Nicht nur die Risiken, sondern auch die Gesellschaft und auch das Anspruchsniveau der Gesellschaft gegenüber Versicherungen. Die Versicherungsindustrie war immer schon ein Spiegel der Risiken in einer Gesellschaft. Denn sie zu decken ist die Grundlage für private und unternehmerische Risikobereitschaft und damit für Fortschritt.
Wenn sich also die Welt verändert, ist die Versicherungsindustrie der Schmelztiegel dieser Entwicklungen. Digitalisierung ist gegenwärtig der große Veränderungstreiber. In jedem Aspekt des gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenlebens. Für uns selbst geht es dabei um mehr als den reinen Risikotransfer.
Es geht zukünftig darum, unseren Kunden zu helfen, ihre Risiken und/oder deren Vermeidung besser zu verstehen und beim Eintritt eines Schadens dessen Folgen zu bewältigen. Ich empfinde das als große Chance, denn es gibt neue Möglichkeiten, Märkte zu gestalten und die Marktstrukturen in der Versicherungsindustrie zu verändern.
Wie gut sehen Sie sich als Unternehmen in den von Ihnen eben skizzierten drei Kategorien Kerngeschäft, Ökosysteme und neue Märkte aufgestellt?
Schoeller: Im Kerngeschäft hat die Gothaer in den letzten Jahren viel getan, um die technologische Infrastruktur zu optimieren. Das ist die Basis für Wachstum und exzellenten Service für Kunden und Vertriebspartner. Wir sind auch ziemlich weit, was die Dateninfrastruktur angeht und arbeiten an cloud-basierten Lösungen.
Zudem heben wir in weiten Teilen der Sach- und Krankenversicherung neue Bestandsführungssysteme eingeführt. Mit unserer Gewerbeplattform GoSmart können wir beispielsweise das Underwriting direkt am Point-of-sale vornehmen und komplett per Dunkelverarbeitung policieren. Auch beim Thema BiPro sind wir im Vergleich zu Mitbewerbern relativ weit. Damit können wir die Potenziale der Digitalisierung auch im Vertrieb nutzen.