Vor kurzem las ich in der „Times“, dass die Bank of England ankündigen sollte, die Zinsen über einen längeren Zeitraum unverändert beizubehalten. Dafür plädierte der geldmarktpolitische Schatten-Ausschuss der Zeitung, ein Gremium aus Volkswirten und ehemaligen Mitarbeitern der Bank of England.
Gastbeitrag von Jim Leaviss, M&G Investments
Genau diese Strategie wird bereits von der Bank of Canada und auch von der US-Notenbank umgesetzt – wo sie mittlerweile sogar durch noch konkretere Zielvorgaben für die Arbeitslosenquote und die Inflationsrate abgelöst worden ist.
In den letzten Jahren hat die Fed immer wochenlang über ihre Kommunikationsstrategie diskutiert. Bei anderen Notenbanken gibt es monatliche Pressekonferenzen. Bei der EZB beispielsweise verbarg sich hinter dem Codewort „große Wachsamkeit“ des damaligen EZB-Chefs Jean-Claude Trichet die Bedeutung „die Zinsen werden im nächsten Monat steigen“.
Außerdem werden wir mit Berichten zur Inflation und zur Finanzstabilität, mit Fächer-Diagramme und mit BIP-Prognosen versorgt, aus denen die Volkswirte am Markt dann ableiten, dass die Prognosen der Notenbank für die nächsten zwei Jahre bedeuten, dass vorerst keine weiteren quantitativen Lockerungsmaßnahmen ergriffen werden.
Too much information?
Ich frage mich wirklich, ob man uns nicht vielleicht zu viele Informationen gibt. Indem uns die Notenbanken detailliert über ihre Vorgehensweise in Kenntnis setzen, riskieren sie nämlich zweierlei: Zum einen laufen sie Gefahr, ihre Strategie nicht mehr ändern zu können, obwohl die konjunkturellen Bedingungen dies eigentlich erfordern – falls beispielsweise das Wirtschaftswachstum wieder kräftig anzieht, die Notenbank aber versprochen hat, die Zinsen über Jahre hinweg unverändert beizubehalten. Zum anderen gehen sie das Risiko ein, ihr Gesicht, ihre Glaubwürdigkeit und das Vertrauen des Marktes zu verlieren, falls sie ihre Versprechen nicht einhalten. Und beide Möglichkeiten kämen die Notenbanken teuer zu stehen, würde dadurch doch das potenzielle BIP-Wachstum einer Volkswirtschaft beeinträchtigt.
Und es gibt noch mehr Risiken: Beschwört das Versprechen, die Zinsen dauerhaft niedrig zu halten, nicht vielmehr die Rückkehr der „vier Reiter der Anleihenapokalypse“ herauf – in Form von verbrieften Unternehmensdarlehen, PIK-Papieren, mit CCC eingestuften Hochzinsanleihen und Mega-LBOs?
Und führt es nicht auch zu einer übertriebenen Selbstsicherheit bei Investments? Zu Strukturen, die nur dann funktionieren können, wenn die Zinsen überhaupt nicht mehr ansteigen? Ruft die aktuelle Strategie der Notenbanken vielleicht sogar Asset-Blasen hervor? Und welchen Handlungsspielraum haben die Notenbanker überhaupt noch, wenn Überraschungs- und Schockmoment gänzlich wegfallen?
Schlimmer noch: Was wäre, wenn die Strategie dauerhaft niedriger Zinsen letztlich sogar genau das Gegenteil von dem bewirkt, was man eigentlich beabsichtigt hatte? Heißt das also, dass wir letztlich alle verloren sind? Vielleicht sollten die Notenbanker erkennen, dass unsere Ungewissheit ihr wirkungsvollstes Werkzeug ist (abgesehen vielleicht von quantitativen Lockerungsmaßnahmen in unbegrenzter Höhe).
Diego Maradona und die Theorie der Geldmarktpolitik
Diego Maradona muss das gewusst haben, als er 1986 bei der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko zwei Tore im Finale gegen England schoss. Denn im Jahr 2005 hielt der Chef der Bank of England eine Rede, in der er die interessanteste Aussage eines Notenbankers aller Zeiten tätigte:
„Üblicherweise assoziiert man den großen argentinischen Fußballer Diego Maradona nicht unbedingt mit der Theorie der Geldmarktpolitik. Und doch ist seine Leistung aus dem WM-Finale im Juni 1986 in Mexiko, in dem er zwei Tore gegen England erzielte, ideal, um meinen Standpunkt zu illustrieren. Das erste Tor, die „Hand Gottes“ Maradonas, war ein gutes Beispiel für die „geheimnisvolle und mysteriöse“ Strategie, welche die Notenbanken in der Vergangenheit umgesetzt haben. Seine Aktion kam unerwartet und zu einem Zeitpunkt, an dem niemand damit gerechnet hätte. Und regelwidrig war sie auch noch. Maradona hatte einfach Glück, dass er damit durchkam. Sein zweites Tor ist jedoch eine eindrucksvolle Demonstration, wie groß die Macht der Erwartungen innerhalb der modernen Zinstheorie ist. Mitten aus der argentinischen Hälfte heraus setzte Maradona zu einem Sprint über fast 60 Meter an, ließ dabei fünf Gegenspieler stehen und platzierte den Ball schließlich im englischen Tor. Wirklich bemerkenswert dabei ist jedoch, dass Maradona in einer nahezu geraden Linie über das Spielfeld rannte. Wie kann man fünf Gegner ausspielen, wenn man lediglich geradeaus läuft? Nun, weil die englischen Verteidiger erwartet hatten, dass Maradona entweder über die linke oder die rechte Seite gehen würde und entsprechend reagierten. Und genau deshalb konnte er geradeaus durch die Verteidigung durchmarschieren.“
Hätte Maradona zuvor eine Pressemeldung sowie eine Broschüre herausgegeben und darin detailliert erläutert, was er vorhatte, dann hätte es diese Tore nie gegeben. Nur indem er die englische Mannschaft im Ungewissen ließ und zwischendurch sein Gewicht von links nach rechts verlagerte – was in der Sprache der Fußballer einem Stirnrunzeln entspricht –, erzielte er das großartigste Tor aller Zeiten.
Der Autor Jim Leaviss ist Leiter Fixed Income bei M&G Investments.
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