Ein Versicherungsvertrag lässt sich digital abschließen – auch wenn das in der Praxis nicht ganz so schnell geht wie in der TV-Werbung. Die Kundin oder der Kunde durchläuft von der Suche nach dem günstigsten Tarif bis zur digitalen Unterschrift einen vielschichtigen Prozess, der umso komplexer ausfällt, je beratungsintensiver das Produkt ist. Eine App reicht hier nicht immer; die Gesamtlösung sollte vielmehr auch die Offline-Beratung einschließen – ohne dass die Kunden den Medienbruch als störend empfinden.
Im Assekuranz-Business gibt es eine Vielzahl fester Kategorien. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Lebens- und Sach- oder Kompositversicherungen. Innerhalb dieser Hauptsparten spreizt sich das Geschäft in Dutzende von Unterkategorien auf, darunter spezielle Formen wie Dread-Disease-Versicherungen, die Leistungen im Fall schwerer Erkrankungen garantieren. Zudem gibt es eine Vielzahl von Mischformen, wie Risikolebensversicherungen mit Absicherung gegen die Folgen von Arbeitsunfähigkeit oder Partnerversicherungen.
Vor allem bei den Lebensversicherungen hängen Vertragsklauseln und Tarife von den biometrischen Daten des jeweiligen Kunden ab, also davon, wie alt er oder sie ist, welche Vorerkrankungen diagnostiziert wurden und welches Risiko die Versicherung demnach eingeht. Die Customer Journey ist also deutlich komplexer als zum Beispiel bei einer Kfz-Versicherung. Es dürfte für den Großteil der Klientel schwierig sein, sich allein durch den Dschungel von Optionen, Bedingungen und Einschränkungen zu hangeln. Hier ist meist eine Beratung durch den Vermittler des Vertrauens gefragt.
Rundum-Sicht auf den Kunden
Der Begriff Beratung beschwört die Vorstellung von einem Vieraugengespräch herauf, zumindest per Video-Chat, eventuell auch noch in Form eines privaten Telefongesprächs. Doch setzen Web-Shop-Betreiber bereits Chatbots ein, um unentschlossenen Kunden Entscheidungshilfe zu geben. Manchmal reichen einfache Programme oder Apps, um wichtige Fragen zu klären. Voraussetzung ist allerdings, dass dem Anbieter die häufigsten Anliegen sowie die üblichen Stolpersteine auf der Kundenreise bekannt sind. Zudem muss er den Prozess strikt vom Kunden aus konzipieren.
In persönlichen Beratungsgesprächen ist oft zu wenig Zeit, um alle offenen Fragen zu klären. Eine ergänzende Online-Beratung gibt den Kunden das Gefühl, umfassend informiert zu sein. Gleichzeitig erfährt der Anbieter, was Interessenten über das Gespräch hinaus noch wissen wollen und lernt diese besser kennen.
Entscheidend ist, die Kundin oder den Kunden nicht zu überfordern beziehungsweise einzuengen. Sie oder er soll selbst entscheiden können, welcher Kanal gerade der richtige ist – Online, Telefon oder das persönliche Gespräch. Dabei setzen die Kunden voraus, dass die auf einem Kanal übermittelten Informationen auch auf den jeweils anderen verfügbar sind. Das liegt auch im Interesse der Versicherung, weil sie so auf alle Informationen zu einem bestimmten Kunden direkt zugreifen kann hat.
Kundinnen und Kunden wollen ihre Customer Journey als durchgängigen Prozess erleben, egal, welches Medium sie nutzen und wie viele Teilnehmer darin involviert sind. Im Gegensatz zu den Banken, die ihre Produkte meist in Eigenregie bereitstellen, arbeiten die Versicherungen traditionell mit einem Ökosystem von Vermittlern zusammen. Darunter sind oft größere Agenturen, die zum Teil mit mehreren Assekuranz-Anbietern kooperieren und deshalb gern auf eigene digitale Lösungen setzen würden.
Solchen Ansätzen sollten die Versicherungskonzerne rigoros entgegensteuern. Sonst riskieren sie einen heterogenen Auftritt sowie einen Wildwuchs von Themen und Techniken. Für die Agenturen bedeutet das Mehrarbeit; sie müssen sich unter Umständen auf die Plattformen verschiedener Anbieter einstellen und entsprechendes Know-how aufbauen.
Die technischen Voraussetzungen
Wie sieht eine technische Lösung aus, die eine unbeschwerte Kundenreise ermöglicht und gleichzeitig die Anbieterseite nicht überfordert? Aktualität, Vollständigkeit und Konsistenz der Kundendaten sind von entscheidender Bedeutung. Soll zur Customer Journey die persönliche Beratung gehören, so muss unbedingt sichergestellt sein, dass sich der Agent oder Vermittler auf demselben Informationsstand befindet wie das System des Versicherungskonzerns. Nur so kann er den Kunden korrekt beraten.
Alle Teilnehmer am Ökosystem müssen über einen einheitlichen Daten-Layer auf die Informationen zugreifen und sie nach der Bearbeitung umgehend dorthin zurückspielen. Das Ergebnis ist eine „Golden Source“, im IT-Jargon auch „Single Source of Truth“ genannt, also eine konsistente Datenbasis mit definierten Zugriffs- und Update-Rechten.
Sinnvoll ist auch die Integration eines Kunden-Management-Systems (CRM, Customer Relationship Management). Es unterstützt die Vermittler und Berater dabei, die gesamte Kommunikation mit einem Kunden zu verfolgen, und stellt bei Bedarf blitzschnell alle verfügbaren Informationen über ihn bereit.
Instrumente für die Datenanalyse sind vor allem im Hinblick auf das Thema Marketing-Automation wichtig. Sie helfen bei der Segmentierung der Kunden und beim Gewinnen von Einsichten in das Verhalten immer feiner granulierbarer Kundengruppen.
Selbstverständlich muss der Kunde nachweisen können, dass er der ist, der er vorgibt zu sein. Dazu sind unterschiedliche Techniken im Einsatz, beispielsweise die Identifikation per Video. Wird der Vertrag online geschlossen, bedarf es weiterer Sicherheitsmaßen wie einer digitalen Unterschrift.
Damit Nutzer eine Online-Beratung als angenehm empfinden, lohnt es sich, in die Visualisierung zu investieren. Es ist beispielsweise gar nicht so einfach, auf einer mobilen App das individuelle Versicherungs-Portfolio darzustellen, ohne dass Kunden ständig scrollen müssen.
Bestandsaufnahme lässt Wünsche offen
Laut einer aktuellen Studie von Namics stellen sich die Unternehmen in der Assekuranzbranche längst nicht alle so digital auf wie es den Anschein hat. Das ließ sich anhand von Testkäufen bei 18 Versicherungen belegen. Hier die wichtigsten Erkenntnisse:
• Die Customer Journey ist nur selten von Anfang bis Ende digitalisiert. Die Vertragsdokumente werden häufig noch mit der Post verschickt. Auch deshalb dauert es durchschnittlich fünf Werktage, bis Kunden nach dem Vertragsabschluss auf das Produkt zugreifen können.
• Die Unterstützung während der Entscheidungsphase ist oft mangelhaft. Wenn der Kunde eine Rückfrage hat, erwartet er eine schnelle Antwort. Die erhält er aber im Durchschnitt erst nach zwei bis drei Tagen.
• Direktzahlungen per Kreditkarte oder Zahlungsdienste wie PayPal waren nur in jedem zweiten Fall möglich. Banküberweisungen sind jedoch umständlich. Sie erfordern einen Medienbruch und verärgern damit den Kunden.
• Ein Online-Portal sollte heute State of the Art sein. Aber eines von vier getesteten Unternehmen hatte kein solches Portal im Angebot. Noch schlimmer sah es beim Thema App aus: Nur zwei der 18 Versicherungen waren über eine mobile Applikation erreichbar.
Besser mit dem Kunden kommunizieren
Ganz allgemein ist die direkte Kommunikation zwischen den Versicherungen und den Versicherten eher dürftig. Eigentlich findet sie nur beim Vertragsabschluss statt – und irgendwann später dann wieder beim Eintritt eines Versicherungsfalls. Offenbar ist das für die Anbieter auch in Ordnung. Jedenfalls bemühen sich nur wenige, daran etwas zu ändern. Dabei bieten die heute verfügbaren digitalen Werkzeuge auch für traditionelle Unternehmen vielfältige Möglichkeiten der direkten Kontaktaufnahme mit den Kunden. Wer sie nicht nutzt, bringt sich möglicherweise selbst um die Gelegenheit für neues Geschäft.
Autor Patrick Habel ist Client Service Director bei Namics,
einem Tochterunternehmen von Merkle.