Digitalisierung in der Assekuranz: „Da prallen Welten aufeinander“

Grafik: Cash._Krabbe/Clark/Shutterstock
Clark-Mitbegründer Dr. Marco Adelt (re.): "Die Branche steckt in großen Teilen noch in den Kinderschuhen."

Bereits vor der Corona-Pandemie standen die Versicherer vor massivem Veränderungsdruck. Das Coronavirus hat den digitalen Wandel beschleunigt. Digitale Geschäftsmodelle profitieren ganz besonders. Doch die kommenden Jahre dürften für die Gesellschaften zur großen Herausforderung werden. Der Veränderungsprozess wird weiter an Fahrt aufnehmen, weil sich die Kundenansprüche massiv wandeln. Zudem steigt der Druck durch den demografischen Wandel. Eine Standortbestimmung.

Was haben die Digitale Transformation in der Assekuranz und der griechische Philosoph Heraklit gemein? Auf den ersten Blick erst einmal gar nichts. Wäre da nicht einer von Heraklits bekanntesten Lehrsätzen: „Pánta chorei kaì oudèn ménei“. Was übersetzt heißt „Alles bewegt sich fort und nichts bleibt“. Der Satz ist über 2.000 Jahre alt, fasst aber ziemlich passend die Situation zusammen, in der sich die Versicherungsbranche derzeit beim Thema Digitale Transformation befindet.

„Die Auswirkungen der Pandemie haben den Markt fundamental geändert. Corona hat die Art, wie Kundenkommunikation funktioniert, wie einen Katalysator um zehn Jahre beschleunigt. Dadurch sind wir 2020 in ein neues Zeitalter katapultiert worden. Das Thema ist bei allen Playern im Markt angekommen. Sowohl Provider, also die Versicherungsunternehmen, als auch Consumer, die Vermittlerinnen und Vermittler, sind sich einig, dass man die Digitalisierung angehen muss“, sagt Ulf Papke, Chief Digital Officer Sales bei Lübecker Maklerpool Blau Direkt.

Es gibt keine Blaupause

Das Problem sei, dass es für den gesamten Prozess, in dem sich die Branche befindet, keine Blaupause gebe. „Keiner weiß genau wie. Es gibt jede Menge Buzzwords. Jeder sagt, dass er Digitalisierung „macht“, aber nach zwei, drei Rückfragen an die Verantwortlichen fällt das potemkinsche Dorf zusammen“, sagt Papke. Das klingt eher nach Zweifeln, ob das Thema und die Vielschichtigkeit des komplexen Veränderungsprozesses wirklich von allen Gesellschaften durchdrungen ist.

Dr. Marco Adelt, Vorstand und Co-Founder von Clark, stimmt Papke zu. „Die Versicherungsbranche steckt in großen Teilen immer noch in den Kinderschuhen“, sagt er gegenüber Cash. Der Mitbegründer des Insurtechs erwartet, dass die Branche in den kommenden Jahren vor einem weiteren massiven Umbruch steht. Angesichts der vielen Veränderungen der vergangenen Jahre fällt es schwer, diesem Szenario Glauben zu schenken. Eine Arbeitswelt im Wandel, technische Fortschritte und die Digitalisierung würden dafür sorgen, dass neue Arbeitsplätze entstehen, aber eben auch zehntausende Stellen überflüssig würden, so Adelt.

Die Branche wird sich in diesem Jahrzehnt stark verändern

„Die Branche wird sich in diesem Jahrzehnt stark verändern. Die veränderten Erwartungen der Kundinnen und Kunden sägen am Stuhl der heutigen Versicherungswelt.“ Diese gesamtgesellschaftlichen Veränderungen würden tiefe Spuren in der Branche hinterlassen, zeigt sich Adelt überzeugt. „Ich gehe davon aus, dass in den nächsten zehn Jahren 100 Versicherer die Versicherungsbranche verlassen werden beziehungsweise der Konsolidierung zum Opfer fallen. Auch schätze ich, dass es gut 100.000 Versicherungsvermittler weniger geben wird. Das mag nach einer düsteren Prognose klingen, ist aber auch eine große Chance, die Schnittstelle zu Kunden neu und modern zu denken. So können wir sehen, dass in Deutschland allein im letzten Jahr knapp 20 Prozent aller Policen im Neugeschäft im Bereich Sach-, Unfall- und Haftpflichtversicherungen digital abgeschlossen wurden. Wir sind hier noch am Anfang einer großen Umwälzung mit viel Potenzial“, sagt er.

Handlungsbedarf bei der Digitalisierung

Christian Wiens, CEO des Insurtechs Getsafe, sprach im Interview mit Cash. bereits im Sommer 2020 davon, dass die Pandemie zu einem Brandbeschleuniger werde, der für deutliche Veränderungen im Markt sorgen würde. Die Versicherer teilten diesen Terminus nicht. Sebastian Grabmaier, Vorstandsvorsitzende von JDC, greift Wiens Aussage nun bewusst wieder auf. Man könne statt von einem Katalysator durchaus von einem Brandbeschleuniger sprechen: „Die Pandemie hat klar gezeigt, dass bei fast allen Marktteilnehmern in Sachen Digitalisierung dringender Handlungs- oder Nachholbedarf besteht.“

HDI-Vertriebsvorständin Stefanie Schlick bestätigt Grabmaiers Aussage: „Wenn die Krise ein Gutes hatte, dann dass sie viele aus der Komfortzone geholt hat. Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern alternativlos – eine absolute Notwendigkeit. Wer sich dieser Entwicklung verweigert, wird auf der Strecke bleiben“, sagt Schlick. Auch weil sich das Kundenverhalten nachhaltig verändert. „Kunden erwarten im digitalen Zeitalter auch von ihrem Versicherer – zu Recht – Schnelligkeit und Top-Service, wie sie es aus anderen Branchen gewohnt sind.“ Amazon habe hier die Messlatte hoch gelegt. „Schnelle Reaktionszeiten und einfache Online-Beratungs- und Abschlussstrecken sind heute Must-haves. Alles andere sind K.O.-Kriterien im Wettbewerb.“

Stefanie Schlick, HDI: „Der Digitalisierungstrend im Vertrieb beschleunigt sich auch in Richtung Plattformökonomie.“

Für Neodigital-Vertriebsvorstand Stephen Voss gibt es bei dem Thema allerdings noch einiges zu tun. Oft würden Gesellschaften noch mit proprietären Systemen arbeiten, die speziell zugeschnitten seien – und das innerhalb einer festgelegten Anwendungsinfrastruktur. Und dann komme die digitale Welt von außen. „Da prallen Welten aufeinander“, sagt er. Insofern teilt Voss auch die Einschätzung von Adelt: „Diesen Umbruch sehen auch wir sehr wohl und hier wird ein Punkt angesprochen, mit dem sich die Branche in den kommenden Jahren intensiv auseinandersetzen wird. Der Kunde hat sich seit Mitte der 2000er an eine durchdigitalisierte Konsumwelt gewöhnt. Alles ist von überall erreichbar und es muss vor allem eines sein: Einfach – sprich convenient. Das stellt neue Anforderungen an das Produkt, an alle Produkte und Dienstleistungen.“

Gut alleine genügt künftig nicht mehr. Es muss schnell verfügbar sein, am besten anpassbar und flexibel. „In bestimmten Bereichen wird in Zukunft das Versicherungsprodukt eng an eine Sache, einen Gegenstand, ein Konsumgut gebunden sein. Das nennen wir „embedded“. Der Kunde kauft dann eine Versicherung passend zum Produkt und nicht mehr die Versicherung eines bestimmten Anbieters. Das ist ein ganz neuer Vertriebszugang; die Marke tritt in den Hintergrund, der gesamte Prozess und die Technik sind dann das Bindeglied zum Kunden“, sagt Voss weiter.

Stephen Voss, Neodigital: „Da prallen Welten aufeinander.“

Eine Verbraucherstudie der Unternehmensberatung Guidewire zeigt, dass das Konzept der Embedded Insurance gerade bei jüngeren Versicherungsnehmern gut ankommt. 55 Prozent der Befragten steht dem Konzept positiv gegenüber und wäre bereit, die Versicherung der nächsten großen Anschaffung beim Hersteller selbst abzuschließen. 67 Prozent der 18- bis 24-Jährigen sind offen für solch integrierte Versicherungen.

Die Herausforderungen für Produktgeber als auch für den Vertrieb sind dabei die gleichen: „Es gilt einerseits Kunden, die im Internet nicht nur Informationen suchen, in Form von einfachen Online-Abschlussstrecken Lösungen anzubieten, und andererseits auch allen Kunden in Form von einfachen Übersichten und Transaktionsmöglichkeiten über Smartphone, Tablet oder PC einen digitalen Standard zu bieten, den sie von den meisten anderen Branchen bereits gewohnt sind“, erklärt Grabmaier.

Paradigmenwechsel – weg vom Produktverkauf

Immer mehr Versicherungsunternehmen würden sich nicht nur Gedanken machen, wie sich durch Digitalisierung ihre Backoffice-Prozesse schneller und günstiger abbilden könnten, sondern nähmen auch die Digitalisierung der Kundenschnittstelle in Angriff. Es gehe darum, endlich ein kundenzentriertes Angebot zu schaffen und den Paradigmenwechsel weg vom Produktverkauf hin zu einer ganzheitlichen Sicht der Kundenbelange final zu vollziehen.

„Portale, in denen Kunden sämtliche ihrer Finanz- und Versicherungsbelange transparent abgebildet sehen und organisieren können, bilden hierfür die Grundlage“, zeigt sich der JDC-Vorstandsvorsitzende überzeugt. Ein großes Problem sehen die Experten in den unterschiedlichen Digitalstrategien der Unternehmen: „Was die Interoperabilität von Systemen angeht, sind wir aktuell im Wilden Westen. Dafür ist die Branche sich zu uneinig auch von den IT-Kapazitäten zu schlecht ausgestattet“, befindet denn auch Blau Direkt Chief Digital Sales Officer Papke.

Lesen Sie hier, wie es weitergeht.

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