Doch gehören Versicherungspolicen auf dem Papier in zehn Jahren der Vergangenheit an, wie Getsafe-Vorstand Christian Wiens im Interview mit unserem Magazin prognostizierte? „Die Situation ist bereits heute Realität. Und sie ist nicht nur bei allen Vermittlerinnen und Vermittlern angekommen. Bei Blau Direkt werden nach Angaben von Papke inzwischen 100 Prozent der Daten und Dokumente papierlos eingespielt. „In vielen Fällen innerhalb von Minuten. Das ist quasi Echtzeit für Kundinnen und Kunden. Das wird nicht nur von der nächsten Generation verlangt, sondern auch von älteren“, sagt Papke. Auch Rentner kaufen bei Amazon. Und erwarten ein ähnliches Nutzererlebnis bei Versicherungen. „Wenn ich ein solches Dienstleistungslevel nicht bieten kann, werden meine Kunden anfällig für Insurtechs. Einmal verloren, kommen diese nicht zurück“, sagt der Vertriebsexperte.
Grabmaier glaubt, dass in zehn Jahren etwa die Hälfte der Finanz- und Versicherungsgeschäfte ausschließlich online erledigt werden. „Und das ist auch für Makler und andere Vermittler gut so, dass schon aus demografischen Gründen viel mehr Markt für den einzelnen übrig bleibt.“ Der JDC-Chef zeigt sich davon überzeugt, dass sich die Konzentration auf werterzeugende Vermittlungs- und Beratungsarbeit lohne. Serviceangebot von Google oder Amazon würden sie hierbei eher unterstützen. „Denn solange sie Leads und Kundenzugänge generieren, werden sie sich mit eigenen Angeboten zurückhalten. Gute Makler und Vermittler profitieren von solchen hybriden Modellen“, sagt Grabmaier.
Hybride Kunden, die sich online informieren – research online – und analog abschließen – purchase offline – bilden nach Aussage von HDI-Vorständin Schlick bereits heute die größte Kundengruppe. „Die Gruppe der Menschen, die ihre Finanz- und Vorsorgeangelegenheiten komplett online („Pure Onliner“) abwickeln, wächst stetig – aus unserer Sicht und das bestätigt der GDV in seiner jüngsten Vertriebswege-Statistik – trifft dies nicht nur auf die jüngeren Menschen zu, sondern gilt gleichermaßen auch für die älteren Generationen ab 45 Jahre. Ein Kanalwechsel zwischen On- und Offline ist bereits heute die Regel – mit steigender Online-Tendenz“, sagt sie.
Da tut sich was: Warum Versicherer jetzt die Digitalisierung voranbringen müssen Pfade verlassen, Kernsysteme modernisieren, neue Strategien. Zudem spielen Kooperationen eine wichtige Rolle auf dem Weg in die neue Ära. Beim Thema Digitalisierung zeigt sich, dass die Branche zunehmend zur Veränderung bereit ist. Ein Kommentar von Andreas Fensterer und Thorsten Schrader, Q_Perior Drohnen und Satellitenbilder helfen bei der Ermittlung von Gebäudewerten oder Produktionsunterbrechungen, intelligente, KI-basierte Apps analysieren Bilder bei Schadenfällen oder werten große Datenmengen aus – und Versicherer versuchen sich gleichzeitig als Tech-Company zu präsentieren, die neben dem Kernprodukt Versicherungen auch APIs und Services an andere Versicherer oder Markteilnehmer verkauft. Klingt nach Zukunftsmusik? Mitnichten! All das ist längst in der Entwicklung und kommt, vor allem bei größeren Versicherungshäusern, bereits zum Einsatz. Doch zum Gesamtbild gehört auch, dass sich die Branche momentan größtenteils auf anderer Ebene mit der Digitalisierung beschäftigt – konkret mit dem digitalen Ausbau von Kunden- und Self Services. Hier hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan, zusätzlich beschleunigt durch die Pandemie. So ist es heute nichts Besonderes mehr, per Videocall mit den Versicherungsmakler Verträge durchzusprechen und direkt eine digitale Unterschrift zu setzen oder elektronische Versicherungsbestätigungen anzufordern. Die Personen-Identifikation via App hat sich etabliert, ebenso wie automatisierte Chatbot-Antworten auf Standardfragen. Diese Entwicklung ist erfreulich, doch schöpft sie die Potenziale von Digitalisierung bei Weitem nicht aus. Jetzt gilt es: Nicht stehenbleiben, sondern weiter vorangehen und über die „Low Hangig Fruits“ hinausdenken. Konkret bedeutet das, die IT-Landschaft weiter zu modernisieren und flexibler zu machen und Data Analytics und Automatisierungen beispielsweise im Schadenbereich stärker zu nutzen. Weitere Potenziale liegen in der Integration in bestehende oder entstehende Ökosysteme oder im Aufbau eines eigenen und sich für InsurTechs und Neo-Versicherer zu öffnen. Versicherer in der Transformation „Neue Technologien entwickeln sich mit exponentieller Geschwindigkeit. Künstliche Intelligenz, Sprachassistenten, Roboter, Industrie 4.0, selbstfahrende Autos – all das verändert nicht nur das Leben unserer Kunden, sondern auch unsere Arbeitswelt“, erklärte Ulrich Leitermann, Vorstandschef der Signal Iduna, vor vier Jahren zum damaligen Start des Transformationsprogramms VISION2023. Seitdem ist die Transformation der Lebenswelten von Kunden weiter fortgeschritten. Damit verschwimmt auch die klassische Spartenlogik bei Versicherungsleistungen, sie orientiert sich zunehmend entlang dieser Lebenswelten, wie etwa der Vormarsch der sogenannten Embedded Insurance-Produkte beweist – Versicherungen, die passgenau auf Reisebuchungen oder den Kauf von Konsumgütern zugeschnitten sind. Gleichzeitig wachsen die Digital Natives langsam in den Markt, die ein stark verändertes Informationsbedürfnis und hohe Erwartungen an die Reaktionsgeschwindigkeit mitbringen. Thorsten Schrader (li.) und Andreas Fensterer, beide Q_Perior Dass viele Häuser die Digitalisierung in ihrer Unternehmensstrategie verankern, zeigt, dass das Bewusstsein bei den Entscheidern der Branche angekommen ist und die digitale Transformation somit bereits begonnen hat. Jetzt ist Pioniergeist gefragt. Dass zunehmend strukturell der Weg in die Digitalisierung bereitet wird, spiegelt sich auch in Personalien wider: So hat die Signal Iduna in diesem Frühjahr das Vorstandsressort mit dem zukunftweisenden Namen „Kunde, Service und Transformation“ für Chief Transformation Officer Johannes Rath geschaffen, um den digitalen Wandel voranzutreiben. Bei der Allianz wurde diese Ambition bereits einige Jahre früher und mit globaler Ambition durch die Schaffung des Vorstandsressorts H10 Business Transformation und der Ernennung von Ivan de la Sota zementiert. Integration statt Abschottung: Ohne Partner geht es nicht mehr Wer all das schaffen will, kommt um Kooperationen nicht herum. Und so sehen wir, dass Versicherer sich zunehmend für die Zusammenarbeit mit InsurTechs öffnen, um Teile ihrer Wertschöpfungskette zu digitalisieren und zu beschleunigen. Die Zahl der Kooperationen mit kleinen, hochspezialisierten Start-ups und Neo-Versicherern wächst weiter. Hier sind zukunftsträchtige Symbiosen möglich – mit der Expertise der Versicherer auf der einen und dem technischen Know-how der Start-ups auf der anderen Seite. Wer hier jetzt den Mut aufbringt, White Label-Produkte in sein Portfolio aufzunehmen und die digitalen Services gleich dazu, wird mittelfristig davon profitieren. Insgesamt ist zu beobachten, dass die Branche zunehmend zur Veränderung bereit ist. Wer sich jetzt vom Fully Integrated Dinosaur zum Integrated Symbiot weiterentwickelt, für den ist später vieles möglich. Nur, wenn Versicherer jetzt ausgetretene Pfade verlassen, ihre Strategie und ihre Kernsysteme modernisieren und sich insgesamt für Dritte öffnen, werden sie zukunftsfähig bleiben. |
Die Ergo bestätigt Schlicks Einschätzung. „Diese Kunden wollen an möglichst allen Kontaktpunkten, digital wie analog, schnell, komfortabel und gut bedient werden. Von WhatsApp-Kommunikation mit dem Berater und Online-Terminbuchungsmöglichkeiten bis hin zu Omnikanal-fähigen Produkten und digitalisierten Beratungs- und Antrags-prozessen, innovativen Apps und Vertragsunterschriften per Smartphone. Die Corona-Krise hat die ohnehin gestiegene Online-Nutzung von Kunden gestärkt und verstetigt – und diesen Trend werden wir weiter für uns nutzen“, heißt es beim Düsseldorfer Versicherer. Viele Kunden erwarteten den bequemen Wechsel zwischen den Kanälen. Dabei unterscheidet sich die vollständige Digitalisierung von Produkt zu Produkt deutlich.
In weniger beratungsintensiveren Sparten wie Kfz oder Hausrat sind digitalisierte Prozesse bereits etabliert. Bei Produkten des Leben-Segments wie einer Berufsunfähigkeits-Versicherung oder einer fondsgebundenen Rentenversicherung ist die Neigung zum Online-Abschluss deutlich geringer. „Unsere Erfahrungen decken sich hier mit denen des GDV. Kunden haben klare Präferenzen und sie differenzieren, welche Versicherungsprodukte sie online abschließen und wo sie eine persönliche Beratung vorziehen“, sagt Schlick.