In der Versicherungsbranche waren die Spielregeln in den vergangenen Jahrzehnten klar und haben sich kaum verändert: Makler oder Vermittler waren dafür zuständig, das Vertrauen von Kunden zu gewinnen und Verträge abzuschließen. In aller Regel handelte es sich dabei um langfristig laufende Policen, die bis heute gute, verlässliche Einnahmen in die Kassen der Versicherungsgesellschaften spülen.
Altbestände laufen aus – und dann?
Doch wer sich weiterhin auf diesem Erfolg ausruht und sein Geschäftsmodell unverändert lässt, geht ein hohes Risiko ein. Denn aktuell ist eine deutliche Veränderung der Kundenbedürfnisse zu beobachten. „Schuld“ daran sind das Internet und digitale Tools, welche zu einem neuen Informations-, Entscheidungs- und Kaufverhalten geführt haben. Waren einst Aspekte wie Produkt, Marke und Preis wichtig, sind nun zusätzliche Bedürfnisse relevant. Hierzu zählen eine durchgängige Customer Journey, individuell passende Echtzeit-Angebote und hoher Komfort. Aber was bedeuten diese Entwicklungen für die Versicherungsbranche?
Produkte und Vertriebsstrategien müssen sich anpassen
Auswirken werden sich die neuen Kundenanforderungen insbesondere im Bereich der Sachversicherungen. Anstatt ein Produkt zu kaufen und erst danach eine passende Versicherung zu suchen, werden diese bisher getrennten Prozesse fusioniert. Das Ergebnis, welches auch eingebettete Versicherung genannt wird, ist für Käufer weitaus simpler und intuitiver: Im Kaufprozess, beispielsweise beim Check-out in einem Online-Shop, wird dem Kunden eine individuell für ihn passende Versicherung für sein Produkt vorgeschlagen. Das Setzen eines Häkchens reicht aus, um sicher zu sein, dass das Produkt vor allen üblichen Risiken geschützt ist. Welche Versicherungsmarke sich hinter dem Vorgang verbirgt, ist hierbei übrigens für Kunden zweitrangig. Was zählt sind ein passendes Angebot, Zeitersparnis, Nutzerkomfort und eine insgesamt positive Customer Experience.
Doch derzeit sind noch nicht alle Versicherungsanbieter in der Lage, diesen neuen Vertriebsweg zu nutzen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst verfügen die meisten Gesellschaften noch nicht über das digitale Angebot, das sich flexibel und in Echtzeit an die Gegebenheiten individueller Customer Journeys, also Versicherungsgegenstand, Versicherungsnehmer und die zu erwartenden Risiken, anpassen. Häufig ist es nicht der Wille, sondern vielmehr die Kapazität, die für solch weitreichende Veränderungsprojekte fehlt. Dies betrifft nicht nur die Anpassung interner IT-Prozesse. Die Herausforderung besteht darin, die neuen Versicherungsprodukte bei Partnern so zu integrieren, dass sie von Kunden möglichst ohne Hürden in der Entscheidungsfindung abgeschlossen werden können.
Ähnlichen Komfort wünschen sich Kunden selbstverständlich auch im Schadensfall. Idealerweise ist es möglich, den Schaden über dieselbe Plattform digital zu melden, über die auch das Produkt gekauft wurde. Erhält der Nutzer dann noch in Echtzeit einen für ihn passenden Reparatur- oder Regulierungsvorschlag, der schnell in die Tat umgesetzt wird, ist die Customer Journey nahezu perfekt.
Organisatorische und technische Hürden sind hoch
Die meisten Versicherer haben bislang wenig Erfahrung im direkten Vertrieb, da sie in der Vergangenheit hauptsächlich auf Makler und Vermittler gesetzt haben. Somit sind zunächst organisatorische Veränderungen notwendig, um die Prozesse auf die neuen, digitalen Vertriebsstrategien auszurichten. Hinzu kommen teils enorme Herausforderungen im IT-Bereich. Insbesondere große Gesellschaften besitzen in aller Regel ein riesiges, über Jahrzehnte gewachsenes, oft eigenentwickeltes Legacy-System. In solchen Systemen lassen sich bestehende Prozesse nur schwer anpassen und neue noch schwerer integrieren. Auch der Datenaustausch mit externen Partnern gestaltet sich aufgrund der geschlossenen Architektur und fehlender Schnittstellen oft problematisch.
Das Ziel: eine komplett digitale Customer Journey
Trotz aller Hürden sollte es das übergeordnete, langfristige Ziel in der Versicherungsbranche sein, die gesamte Customer Journey zu digitalisieren – vom Erstkontakt über den Vertragsabschluss bis hin zur Schadensregulierung und dem Vertragsende. Hierbei sind jedoch viele komplexe Prozessthemen zu betrachten. Erschwerend kommt hinzu, dass verschiedene Sparten – zum Beispiel Lebensversicherung vs. Reiseversicherung – unterschiedlich laufen. So sind Lebens- und Krankenversicherungen beispielsweise beratungsintensiv und daher bis auf Weiteres nicht gänzlich digitalisierbar. Versicherungen im Sach-, Reise- und Unfallbereich haben hingegen einen geringeren Erklärungsbedarf und können schneller transformiert werden.
Am Frontend haben viele Versicherungen bereits mit der Digitalisierung begonnen. Anders sieht es bei den Prozessen im Backend aus. Hier fehlen oft entscheidende Anpassungen und Automatisierungen, um künftig erfolgreich zu sein. Unterstützung finden Versicherungsgesellschaften an dieser Stelle bei InsurTechs.
InsurTechs können die Digitalisierung beschleunigen
Natürlich können historisch gewachsene Coresysteme nicht von heute auf morgen in einem moderne, automatisierbare IT-Umgebung transformiert werden. Dank verschiedener InsurTech-Lösungen ist dies auch nicht unbedingt erforderlich. Mittlerweile existieren Plattformen, welche die fehlenden Eigenschaften der Legacy-Systeme ausgleichen, und die Möglichkeiten erweitern.
Ein Beispiel sind Portale, die alle an der Customer Journey beteiligten Partner zusammenbringen und den Datenaustausch orchestrieren. Diese Partner können beispielsweise ein Online-Händler, die Versicherungsgesellschaft oder der Endkunde sein. Die InsurTech-Plattform-Plattform kümmert sich in diesem Szenario um die direkte Einbindung von Versicherungsprodukten in die digitale Customer Journey und den nahtlosen Datenaustausch mit den beteiligten Backend-Systemen. Ebenso kann die Plattform einen digitalen Schadenmeldeprozess abbilden, möglicherweise sogar inklusive intelligenter Features wie Fotoerkennung. Wichtig ist hierbei vor allen Dingen das Zusammenfügen aller wichtigen Daten und deren Umwandlung in ein für das Backend lesbares Format. Denn nur dann können im Hintergrund automatisierte, schnelle und saubere Prozesse der Policierung und Schadensregulierung realisiert werden.
Während bei Sachversicherungen die durchgängige End-to-End-Digitalisierung der Kundenreise im Fokus steht, stellen sich die Digitalisierungserfordernisse im beratungsintensiven Bereich etwas anders dar. Hier geht es vordergründig darum, Interessenten und Bestandskunden komfortable Kontaktmöglichkeiten über digitale Kanäle bereitzustellen. In diesem Sektor können InsurTechs ebenfalls Abhilfe leisten. Prominente Beispiele sind Mobile Apps für die personalisierte Interaktion oder Chatbots für die Bearbeitung standardisierter Fragen und Anliegen. Auch die KI-gestützte Beratung wird an Relevanz gewinnen, wenngleich die Technologie aktuell noch kaum praxistauglich ist.
Erfüllung von Konsumentenbedürfnissen als zukünftiger Erfolgsfaktor
Erfolgreich werden künftig vor allem die Versicherungen sein, die innovative digitale Produkte und Technologien etablieren, mit denen sich Kundenbedürfnisse optimal erfüllen lassen. Gleichzeitig wird der entsprechende Transformationsprozess dazu führen, dass Versicherungen und InsurTechs für die Endkunden in den Hintergrund rücken. Denn durch die Einbettung von Policen in den Kaufprozess werden Versicherungen und ihre Marke annähernd unsichtbar. Die Prämisse lautet daher: Weniger Investitionen in Marke und Image, verstärktes Engagement in der Digitalisierung.
Hanna Bachmann ist Mitgründerin des Digitalversicherers und InsurTechs Hepster