Der perfekte Sturm ist ausgefallen. „Die große Revolution ist ausgeblieben, dafür gab es aber eine Evolution“, beschreibt Stephen Voss, Vorstand des Neo-Versicherers Neodigital, die Entwicklung der vergangenen Jahre. Vieles habe sich in den vergangenen zehn Jahren seit dem ersten Aufkommen und dem vermeintlichen Hype der Insurtechs getan und verändert. „Die Daseinsberechtigung vieler Insurtech-Ansätze hat sich seitdem aber geändert“, so Voss weiter.
Statt eines Orkans also nur kräftige Böen, die die Versicherungsbranche durchschütteln? Zwar hätten einige dieser Unternehmen ihre ursprünglich sehr ambitionierten Geschäftsmodelle nicht durchhalten können. „Dennoch waren sie Taktgeber. Ohne diese stark auf digitalen Zugang und Abwicklung ausgerichteten Start-ups hätte sich der Gesamtmarkt nicht so schnell in Richtung Digitalisierung und verbessertem Kundenservice entwickelt“, resümiert Voss.
Fakt ist: Die digitale Transformation mit ihren disruptiven Entwicklungen zwingt die klassische Versicherungsbranche seit mehr als einem Jahrzehnt zu einem tiefgreifenden Umbau ihres Geschäftsmodells. „Die Versicherungsbranche steht derzeit an einem entscheidenden Punkt ihrer digitalen Transformation. Der demografische Wandel hat bereits zu erheblichen Veränderungen geführt: Die sogenannten Challenger-Insurtechs haben mit ihren schlanken digitalen Plattformen und innovativen Datenanalysen die Messlatte für das Kundenerlebnis deutlich höher gelegt. Dadurch gewinnen sie die Aufmerksamkeit der digital versierten Generation Z, die an nahtlose Online-Erfahrungen gewöhnt ist“, gibt Tatjana Griebel, Digital Strategy Partner bei der Strategieberatung Ommax, eine Positionsbestimmung.
Embedded Insurance
Sowohl Marktführer als auch Nischenanbieter konzentrieren sich laut Griebel derzeit verstärkt auf eine kundenzentrierte Digitalstrategie – mit neuen Omnichannel-Ansätzen. Ziel sei die nahtlose Integration von Online-, Mobile- und Offline-Kanälen sowie die Implementierung einer vollautomatisierten Schadenabwicklung mit Hilfe von KI und ML. „Auch das Angebot in andere Dienstleistungen „eingebetteter“ Versicherungen wird zunehmen, da dies Kunden einen noch einfacheren Zugang zu Versicherungsprodukten bietet und die Marktdurchdringung für Anbieter erhöht“, so Griebel.
Hinzu kommt der wachsende Einfluss von KI. Solche Modelle dürften die Risikoeinschätzung weiter verbessern, so Griebel, so dass die Versicherer ihre Risiken genauer einschätzen und eine bessere Preisgestaltung vornehmen können. „Obwohl die Assekuranz traditionell Veränderungen eher konservativ gegenübersteht, nicht zuletzt aufgrund der hohen Komplexität des Versicherungsumfelds, wird die Branche in den kommenden Jahren zwar langsam, aber kontinuierlich bei der Digitalisierung voranschreiten“, sagt die Expertin.
Szenenwechsel, Februar 2024: Auf einer Konferenz zum Thema Run-off im Februar 2024 in Hamburg war eines der Themen die in die Jahre gekommene IT vieler Versicherer. Die Modernisierung der Altsysteme erfordere hohe finanzielle Investitionen, die nicht jeder Versicherer stemmen könne. Die Folge sei, dass vor allem finanziell schwächere Unternehmen entweder aus dem Markt ausscheiden oder fusionieren müssten, so die These, die unter anderem Frank Wittholt, Head of Sales und Mitglied der Geschäftsleitung der Adesso-Tochter und Abwicklungs- und Verwaltungsplattform Afida, vertrat. Wittholt war von 2017 bis Ende 2022 Vorstandssprecher der Ergo Lebensversicherung AG, der Victoria Lebensversicherung AG und der Ergo Pensionskasse AG. Und er weiß, wovon er spricht: Die beiden Lebensversicherer, deren Vorstand er ist, befinden sich im internen Run-off.
Wird eine in die Jahre gekommene IT zum Fusionstreiber?
Doch ist die in die Jahre gekommene IT eine der größten Herausforderungen für die Zukunft der Branche? Neodigital-CEO Voss unterstützt Wittholts Aussage: „Die technologische Plattform wird der Differentiator der Zukunft werden. Erklären Sie heute einem Millennial oder den nun ins Versicherten Alter eintretenden Genration Z, warum sie auf eine Versicherungspolice, einen Leistungsnachtrag oder eine Vertragsänderung mehrere Tage warten sollen. Wir haben im deutschen Markt über 500 Versicherungsunternehmen. Die wenigsten werden die technologische Transformation ganz alleine schaffen. Da vor allem die Platzhirsche. Die Cleveren gehen in Kooperationen und sparen sich die proprietären Systeme und der Rest wird über Jahre noch den eigenen Bestand abreiten und dann im Nirvana vergehen. Das ist die Realität.“
Digitale Leuchttürme sind laut Voss derzeit beispielsweise die Ergo Group, die inzwischen verstärkt KI in ihren Schadenprozessen einsetzt, die Axa im Bereich Mobility mit mobilitätsübergreifenden Konzepten, die R+V, die beginnt, den Bereich Gewerbe- und Schwerverkehr neu zu denken oder die HUK-Coburg mit modernen Servicekonzepten, die komplementär zur Kfz-Versicherung wirken.
Die Kosten der technologischen Modernisierung sieht Markus Heyen, Geschäftsführer und Leiter des Bereichs Versicherungen bei Accenture DACH als eine der großen Herausforderungen für die Branche. Inwieweit die durchgeführt werden kann, hänge auch von der Kapitalstärke des jeweiligen Unternehmens ab. In Grunde müsse jeder Versicherer für sich entscheiden, inwiefern es sich lohne, Altsysteme weiter zu optimieren oder auf gänzlich neue Systeme zu setzen, so Heyen. „Eine solche Modernisierung kann für kleinere Unternehmen schnell zur wirtschaftlichen Herausforderung werden“, sagt der Accenture-Experte. Denn die Unternehmen müssen bei der Modernisierung der Altsysteme immer auch darauf achten, dass die Kosten nicht aus dem Ruder liefen. Heyen hält in Anbetracht der Größe der Umbaumaßnahmen und Höhe der Kosten Fusionen durchaus für sinnvoll.
Wie hoch die Kosten für die Modernisierung von Altsystemen sind, darüber sprechen Versicherer selten. Umso spannender sind die Zahlen, die Tilo Dresig, Vorstandsvorsitzender der Run-off-Gesellschaft Viridium, nannte. Viridium hatte 2019 von der Generali Leben, heute Proxalto, rund vier Millionen Verträge und Kapitalanlagen im Wert von rund 45 Milliarden Euro übernommen. Und mit der Übernahme auch die alten Bestandsführungssysteme der Generali Leben. Die Überführung der Altbestände in moderne IT-Strukturen sowie die IT-Modernisierung kosteten den Run-off-Versicherer viel Geld. Allein die IT-Migration verschlang rund 250 Millionen Euro. Vor dem Hintergrund solcher Summen wird deutlich, warum Unternehmensgröße und Finanzkraft zu einem relevanten Faktor für die digitale Transformation im Markt werden dürften.
Der Markt verändert sich
Und das hat Folgen für die Versicherungslandschaft in Deutschland. Ende September 2024 fusionierten die Barmenia und die Gothaer zu einem der größten Versicherungskonzerne auf dem deutschen Versicherungsmarkt. Es war die größte Fusion auf dem deutschen Versicherungsmarkt seit Jahrzehnten. Am 22. Oktober 2024 kündigten auch die Stuttgarter Lebensversicherung und die Süddeutsche Krankenversicherung ihre Fusion für 2026 an. Grund für die Fusion: Die wachsenden Herausforderungen im Versicherungsmarkt, so Ulrich Mitzlaff, Vorstandsvorsitzender der Süddeutschen Krankenversicherung. „Größe wird ein immer wichtigerer Faktor“, so Mitzlaff.
Zudem erhoffe man sich Skaleneffekte. Aber auch die anstehende Finanzierung von Automatisierung, Digitalisierung und technologischer Transformation sei ein Grund für den geplanten Zusammenschluss. „Vertriebspartner und Mitglieder erwarten von uns Innovation und Digitalisierung“, so Mitzlaff. „Versicherer, die Kundenbedürfnisse ignorieren, Kundenbeziehungen vernachlässigen oder die Customer Journey nicht an die entsprechenden Wünsche anpassen, werden massive Probleme bekommen“, bestätigt auch Accenture-Mann Heyen.
Die veränderte Wertschöpfungskette
Doch wie gut sind die Versicherer auf die veränderte Wertschöpfungskette vorbereitet? „Im Vergleich zu früher ist die Reise der Kunden heute viel komplexer, digitaler, interaktiver und personalisierter geworden, und sie ist weniger vorhersehbar. Kunden sind heutzutage deutlich informierter, erwarten maßgeschneiderte Erlebnisse und interagieren über eine Vielzahl von Kanälen – vom klassischen Telefonkontakt über E-Mail bis hin zu sozialen Medien, Apps und Chatbots“, sagt Frank Kettnaker, Vertriebsvorstand der ALH. Diese Entwicklung hat die Wertschöpfungskette in vielerlei Hinsicht verändert, denn Unternehmen sind gezwungen, den Kunden ganzheitlich zu betrachten und neue Touchpoints entlang der Customer Journey zu integrieren.
„Für Versicherungsunternehmen – und so natürlich auch für uns – bedeutet dies, dass wir unsere Kundenservices kontinuierlich anpassen und umgestalten müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und die Erwartungen zu erfüllen. Die Herausforderungen liegen dabei im Datenmanagement und der technologischen Infrastruktur, aber auch in Agilität und Anpassungsfähigkeit, Vertrauen und Transparenz“, so Kettnaker. Man befasse sich intensiv mit dem Thema Multichannel- und Omnichannel-Management und neuen Technologien, um den Kunden ein durchgängiges und nahtloses Erlebnis über alle Kanäle hinweg zu bieten. Angesichts dieser Entwicklungen hat die ALH reagiert und das neue Ressort für Digitalisierung, KI und Serviceprozesse geschaffen. Leiter des Ressorts ist seit Juli 2024 Dr. Jochen Kriegmeier. „Damit stellen wir uns strategisch neu auf, um Digitalisierung und Serviceprozesse für Vermittler und Kunden gruppenweit zu steuern“, sagt Kettnaker.
Trotz Omnikanal – der personelle Vertrieb bleibt unverzichtbar
Ein nachvollziehbarer Schritt. Denn auf rein analoge Prozesse kann heute kein Unternehmen mehr setzen. Für den Vertrieb besteht die Herausforderung darin, entlang der gesamten Wertschöpfungskette präsent und integriert zu sein. „Unser Ziel ist es, mit digitaler Unterstützung eine optimale Customer und Sales Journey über alle Kanäle anzubieten – Stichwort Omnikanal“, sagt Oliver Aust, Head of Strategy, Data and Organisation bei Axa. Dabei sei insbesondere auch der personelle Vertrieb weiterhin ein sehr wichtiger Kanal, betont Aust.
„Fast jede Suche nach einer Versicherung beginnt zwar mittlerweile digital, mindestens mit einer Internetsuche. Aber viele Kundinnen und Kunden entscheiden sich nach dieser ersten Recherche dann weiterhin für eine persönliche Beratung. Wir wollen für alle Kunden die passenden Angebote zu ihren individuellen Bedürfnissen machen – auf allen Kanälen“, sagt Aust.
Für Vema-Vorstand Dr. Johannes Neder geht es darum, dass die Technik, sprich Digitalisierung, dem Menschen die Freiräume schaffe, damit er die gern zitierte „menschliche Komponente“ stärker ausspielen kann.
„Vor allem in Beratung und (echter) Vertriebskreativität. Kunden mögen unsere Branche nicht und sie verstehen auch die Produkte in aller Regel nicht. Da ist ein Mensch, der einem das gute Gefühl gibt, dass er sich Zeit für einen nimmt, bemüht ist, alles verständlich zu erklären und einfach erreichbar ist, Gold wert“, sagt Neder.