Drohender Brexit: Weg aus Europas Sackgasse – Deutschland vor der Gretchenfrage

Zeit für eine ehrliche Debatte

„Der drohende Brexit zeigt noch einmal, dass wir eine ehrliche Debatte über die Zukunft Europas benötigen“, sagt Wilhelm. „Die ökonomische Wahrheit lautet: Ein halbfertiges System wie die EU und die Währungsunion kann nicht dauerhaft stabil sein.“ Dass die ökonomisch beste und auch tragfähigste Lösung in einer tieferen europäischen Integration, also einer Stärkung der supranationalen Institutionen liegt, wird akademisch oft nachvollziehbar argumentiert. Dieser Weg aber ist derzeit kaum realistisch: „Das Erstarken der antieuropäischen Parteien zeigt, dass sich die Europäer in ihren nationalen Eigenarten von Brüssel nicht genug wahrgenommen fühlen.“ Ein weiteres Überstülpen eines Brüsseler „Superstaates“ löst zunehmend Abwehrreaktionen aus, wie die wachsende Zahl an Protestwählern zeigt. „Die Frage lautet also: Bleiben wir beim Status Quo und riskieren ein Scheitern des Projekts Europa? Oder sind wir bereit, Alternativen zu entwickeln?“, erklärt der Vorstand. Bedauerlicherweise ist hierzu in Deutschland ein Jahr vor der Bundestagswahl von den etablierten Parteien wenig zu hören.

Europa braucht eine neue Zukunftsvision

„Der derzeit eingeschlagene Weg ist nicht durchhaltbar“, erklärt Wilhelm. „Es fehlt eine Zukunftsvision, die den Europäern ihre Nation als Heimat belässt und trotzdem ein hohes Maß an wirtschaftlicher Stabilität erreicht“. Man benötigt eine Europäisierung von Aufgaben dort, wo sie sinnvoll auf der supranationalen Ebene gelöst werden können, z.B. bei der Weiterentwicklung des europäischen Wirtschaftsraums. Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ist entscheidend, denn: „Niemand will einen Nanny-Staat, der alles bis ins Detail regelt,“ so Wilhelm. Genau das ist übrigens auch ein wesentlicher Kritikpunkt der Brexit-Befürworter.

In der Geldpolitik, bei der Wettbewerbs- und der Bankenaufsicht wurde das Prinzip der Subsidiarität schon erfolgreich durchgesetzt. Die Beispiele können als Blaupause für eine sinnvolle und gleichzeitig machbare Reform der EU dienen. Denkbare Instrumente für eine weitere Europäisierung, die nichts mit Regelungswut zu tun haben, sondern sinnvoll erscheinen, sind etwa die europäische Arbeitslosigkeitsversicherung, die eigene Steuerhoheit der EU bei der Körperschaftssteuer oder auch eine zweckgebundene Anleihe der EU-Kommission.

„Wer aber sollte diese Entwicklung zu einem stärkeren Miteinander anstoßen, wenn nicht wir Deutschen als größtes und stärkstes Land der EU“, fragt Wilhelm. Schließlich steht Deutschland auch deshalb in der Verantwortung, weil es mit seiner Wirtschaftskraft quasi als „Brandmauer“ für die damit verbundenen Risiken einstehen muss. „Diese Fragen gehören auf die öffentliche Agenda, damit bei der Bundestagswahl dann auch über ein zukunftsfähiges Programm für Europa abgestimmt werden kann“, fordert Wilhelm.

Die Weiterentwicklung der EU bringt nicht nur politische, sondern insbesondere auch wirtschaftliche Vorteile. „Ein robuster politischer Rahmen fördert Investitionstätigkeit und setzt Wachstumsimpulse in der EU“. Zudem würde der Außenwert des Euro gefestigt, wenn sich die politischen Bedenken internationaler, vor allem angelsächsischer Investoren verringern. „Das führt zu stabileren Finanzmärkten und einer Beruhigung der Kapitalmärkte“, so der Vorstand.

Zeit der Weichenstellung

Die Weichen dafür müssten jetzt gestellt werden. „Leider verfährt Deutschland in der Europapolitik schon seit einiger Zeit nach der ‚Vogel-Strauß‘-Methode. Wie die Diskussion um den Brexit zeigt, wird das aber nicht mehr lange funktionieren“, betont Wilhelm. Das Zögern Berlins behindert geradezu die europäische Gesundung. „Deutschland sollte dabei bereit zu Kompromissen sein, auch wenn diese nicht zum Nulltarif zu haben sind.“ Der deutsche Michel steht vor seiner Gretchenfrage – und muss sich entscheiden, wie er es denn nun mit Europa hält. (tr)

Foto: Union Investment

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