Welches Abschlusspotenzial bergen nachhaltige Versicherungen?
Brocke: Nachhaltigkeit setzt sich in den Lebenswelten der Deutschen zunehmend als eigenständiger Wert und als relevantes Kaufkriterium durch. Es herrscht eine große Offenheit für nachhaltige Produkte. Zugleich wird es für Verbraucherinnen und Verbraucher immer leichter, sich selbst nachhaltig zu verhalten. Zum Beispiel indem man nachhaltige Produkte wählt oder die Services nachhaltiger Anbieter nutzt. Nachhaltigkeit ist daher längst kein Modetrend oder Inselthema mehr. Es ist gekommen, um zu dauerhaft bleiben. Auch nachhaltige Versicherungen – im Sinne von an konkreten Nachhaltigkeitskriterien orientierten Produkten sowie von Unternehmen, die ihr Engagement und ihre Investments nachhaltig ausrichten – haben gerade für die Kunden von Morgen ein großes Zukunftspotenzial.
Ganz aktuell stehen nachhaltig produzierte Lebensmittel, nachhaltige Energieversorgung, nachhaltige Mobilität, nachhaltiges Bauen etc. stärker im öffentlichen Fokus als nachhaltige Versicherungen. Aber auch das Interesse an nachhaltigen Versicherungen wächst: Grundsätzlich können sich heute bereits rund 60 Prozent aller Verbraucher vorstellen, in Zukunft gezielt nachhaltige Versicherungsprodukte abzuschließen; unter 30-Jährige und besonders nachhaltigkeitsaffine Verbraucher sogar zu über 80 Prozent. Wichtig für Anbieter ist, dass Nachhaltigkeit durchgängig gelebt und kein „Greenwashing“ betrieben wird. Nur so können nachhaltige Produktangebote ihr Potenzial auch ausschöpfen. Halbherzige Lösungen können hingegen schnell nach hinten losgehen. Kurz: Wer sich Nachhaltigkeit auf die Fahnen schreibt, sollte dies auch konkret und transparent einlösen können.
Wie aufgeklärt sind die Kunden beim nachhaltigen Versicherungen?
Brocke: Das Wissen der Verbraucher zum Thema Nachhaltigkeit ist gerade im Versicherungsbereich bisher erst rudimentär ausgeprägt und oft noch diffus. Beispielsweise auch hinsichtlich der Differenzierung von ökologischer, sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit. Auch zu bereits bestehenden Produktangeboten ist der Kenntnisstand in der Breite erst gering. Da fehlt es neben medialer Berichterstattung auch noch an Informationen durch die Anbieter selbst, was Nachhaltigkeit bei Versicherungen konkret bedeutet.
Beispielsweise auch bei Lebens- und Rentenversicherungen, da Endkunden die mit dieser Produktkategorie verbundenen Anlagethematiken nur selten unmittelbar im Kopf haben. Bei Sachversicherungen ist dies für die Kunden bereits leichter vorstellbar; etwa, wenn hier speziell nachhaltigkeitsorientierte Schadenregulierungen angeboten werden oder wenn nachhaltiges Verhalten unmittelbar belohnt wird. Bisher haben sich erst vergleichsweise wenige Kunden – gerade neun Prozent – im Rahmen von Versicherungsabschlüssen mit Nachhaltigkeit befasst. Und noch weniger geben an, bei Versicherungsangelegenheiten bereits von sich aus aktiv auf Nachhaltigkeitsaspekte zu achten.
Die große Mehrheit der Kunden – 73 Prozent – würde Informationen von ihrem Versicherer zu nachhaltigen Versicherungslösungen jedenfalls begrüßen. Sogar viele derjenigen, die dem Thema Nachhaltigkeit ansonsten eher kritisch gegenüberstehen. Zudem konnten wir in unserer neuesten Studie zum Thema feststellen, dass die Abschlussbereitschaft für nachhaltige Produkte ansteigt, wenn konkrete nachhaltigkeitsbezogene Leistungen einzelner Versicherungsprodukte vorgestellt werden.
Die Kommunikation und die Angebote stecken hier vielfach allerdings noch in den Kinderschuhen und im Experimentierstadium. Dies liegt letztlich auch daran, dass Versicherungsgesellschaften in puncto Nachhaltigkeit oft noch nicht klar positioniert sind, selbst erst noch um eigene klare Strategien und Konzepte ringen. Mit reinem „Marketingsprech“ oder mit Alibi-Produkten auf „grüne Züge“ aufzuspringen, wird aber zukünftig immer weniger ausreichen.
Stärker und produktbezogen konkreter informieren, aufklären, erklären – insgesamt noch mehr Transparenz und Vertrauen schaffen und idealerweise die Kunden damit zu begeistern – darum geht es für die Versicherungswirtschaft in der Frage nach größerer Nachhaltigkeit. Erst wenn Verbraucher verstehen, wie ihre Versicherungen substanziell auf Nachhaltigkeit einzahlen, stiftet diese auch einen entsprechenden Mehrwert. Gerade aufgrund ihres Denkens in längeren Geschäftszeiträumen – allen voran im Leben-Bereich – ist die Assekuranz eigentlich prädestiniert, hier zukünftig eine führendere Rolle als bisher zu einzunehmen.
Sie haben die Produktsparten Kfz, Wohngebäude, Hausrat, Krankenzusatz, Unfall, LV/RV und BU untersucht. Was erwarten die Kunden von den Versicherern?
Brocke: Die Nachhaltigkeits-Erwartungen der Kunden gegenüber den Versicherern sind bisher erst wenig konkret. Sie definieren unseren bisherigen Studien zufolge sich vor allem entlang der Leistungsdimension. Bisher weniger an Anbieterimages, generellen Services wie papierlose Kommunikation mit Kunden oder am Umgang der Unternehmen mit ihren Mitarbeitern oder an nachhaltigkeitsbezogenen Aspekten der internen Organisation. Also etwa energieeffiziente Firmengebäude, begrünte Firmendächer, Förderung von E-Mobilität etc.. Grundsätzlich können die Kunden nachhaltige Leistungen aktuell am ehesten mit Sachprodukten assoziieren. Diese werden entsprechend als passend und stimmig empfunden und von den Kunden gewünscht.
Zugleich sehen wir einen weiteren wichtigen Anreiz-Effekt: Motto: „Ich bin gerne nachhaltig, wenn es mich nichts kostet“. Das betrifft zum einen die Kosten für das Versicherungsprodukt selbst. Ein nachhaltiges Produkt darf möglichst nicht mehr kosten als ein konventionelles Versicherungsprodukt – oder dies bedarf einer sehr plausiblen, ganz konkreten Begründung. Zum anderen werden in den einzelnen Sparten vor allem solche Leistungen goutiert, die es ermöglichen, nachhaltig zu sein, ohne auf möglichen Zusatzkosten sitzen zu bleiben.
Haben Sie konkrete Beispiele?
Brocke: Bei der Hausratversicherung schneidet – unter einer ganzen Reihe von uns untersuchter möglicher nachhaltiger Leistungen – die Übernahme von Mehrkosten, wenn Kunden bei einem irreparablen Schaden ein nachhaltiges Ersatzprodukt wählen, mit 38 Prozent begeisterten Befragten am besten ab. Bei der Kfz-Versicherung punkten besonders die Kostenübernahme für die Entsorgung der Akkus von E-Autos oder Hybridautos mit 39 Prozent Begeisterten sowie die Kostenübernahme für Schaden an E-Autos und Hybridautos, die durch Ladestationen entstehen. Hier waren 34 Prozent begeistert. Bei der Unfall- und der Krankenzusatzversicherung kommt vor allem die Reduktion der Beiträge bei einem nachhaltigen Lebensstil gut an (31 Prozent).
Aber auch Leistungen, die eigenes nachhaltiges Verhalten absichern, fördern oder ermöglichen – ohne dabei unmittelbar Kosten zu sparen – sprechen die Kunden an. Bei der Unfallversicherung kann dies beispielsweise eine erhöhte Invaliditätsleistung bei Unfällen im Ehrenamt (33 Prozent Begeisterte) sein; bei der Kfz-Versicherung eine besondere Belohnung dafür, wenn das Auto nur selten genutzt wird (31 Prozent Begeisterte).
Wie erklären Sie sich, dass die Verbraucher die größte Passgenauigkeit in der Sachsparte sehen und hier besonders bei Kfz- und Wohngebäudeversicherungen?
Brocke: Ein wesentlicher Grund, warum Sachversicherungen aus Verbrauchersicht besonders gut zum Thema Nachhaltigkeit passen, ist die Definition des Nachhaltigkeitsbegriffs. Verbraucher sehen vor allem Klima-, Umwelt- und Naturschutzaspekte im Zentrum des Oberbegriffs „Nachhaltigkeit“. Soziale oder ökonomische Nachhaltigkeitsaspekte sind deutlich weniger präsent. Da liegt die Sachversicherung assoziativ näher als Versicherungen, die das eigene Leben oder die Gesundheit zum Gegenstand haben. Dass Kfz, aber auch Wohngebäude (Stichworte: Reduktion von Emissionen, Ressourcenschonung, Energieeffizienz, energetische Sanierung, etc.) mit Klima-, Umwelt- und Naturschutz in Verbindung stehen, ist gefühlt sehr vielen bewusst. Bei einem Krankenhausaufenthalt oder nach einem Unfall liegen die Auswirkungen von Versicherungsangeboten auf ökologische Aspekte im Verbraucherbewusstsein erst einmal ferner, beziehungsweise erscheinen insgesamt abstrakter.
Außerdem leiten wir aus den Ergebnissen unserer bisherigen Studien zum Thema Nachhaltigkeit und Versicherungen ab, dass Verbraucher bei der Beantwortung der Frage danach, wie eine Versicherung nachhaltig sein kann, vor allem in Leistungsdimensionen denken. Also: Was kann die Versicherung für nachhaltiges Verhalten tun? Wie kann sie dies unterstützen, absichern oder sogar verbessern? Auch diese Fragen lassen sich aus Verbrauchersicht am einfachsten bei Sachversicherungen beantworten. Gerade im Leben-Bereich – also dort, wo Versicherer mit dem Geld der Verbraucher mehr oder auch weniger Nachhaltiges tun, von dem Verbraucher bisher gewöhnlich nichts oder nur wenig mitbekommen – wird Nachhaltigkeit bei Versicherungen vom Verbraucher bisher erst wenig gedacht und berücksichtigt. Hier liegt aber ein großer, wenn nicht sogar der größte, Hebel für Nachhaltigkeit. Und hier ist daher auch noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Gerade in Bezug auf die jüngere nachwachsende Generation – zumal diese risikoorientierteren Anlagen grundsätzlich auch offener gegenübersteht als die ältere Generation – tut sich hier ein wichtiges strategisches Wachstums- und Positionierungsfeld für Versicherer auf.
Welche Versicherer stechen beim Thema nachhaltige Altersvorsorge aus der Masse hervor?
Brocke: Aus Verbrauchersicht sticht bisher noch keine größere Versicherung in Sachen Nachhaltigkeit besonders positiv oder besonders profiliert hervor. Aktuell haben die Versicherer das Thema noch nicht in stärkerem und imagerelevanten Maße besetzt bzw. besetzen können. Dies ist auch ein weiterer Grund, weshalb Versicherungen und Nachhaltigkeit in den Köpfen und Herzen der Verbraucher bisher noch nicht eng zusammengehen bzw. bisher nur eine vergleichsweise lose Verbindung haben. Ganz anders als aktuell bereits in anderen Wirtschaftszweigen wie etwa Energie, Mobilität, Landwirtschaft und Ernährung. Lediglich kleine und neue Versicherungsgesellschaften versuchen aktuell hier stärker und gezielter zu punkten; und in dem in puncto Nachhaltigkeit erst wenig bestellten Feld Marktanteile zu gewinnen.
Allerdings beobachten wir, dass immer mehr Versicherer den Weg der Nachhaltigkeit einschlagen. Das Thema zunehmend ernster nehmen und sich höhere Ziele stecken, als dies bis vor wenigen Jahren noch der Fall war. Auch halten Rahmenbedingungen – wie bspw. die Pflicht, ESG-Aspekte in die Beratung einzubeziehen – zunehmend Einzug in die Kommunikation und in den Vertrieb. Grundsätzlich arbeiten alle Versicherer mittlerweile am Thema Nachhaltigkeit – gleich ob Lebens-, Kranken- oder Sachversicherer. Die Lebensversicherer sind mitunter hier schon etwas weiter: anders als für die Kunden als Laien, liegt der Nachhaltigkeitsbezug für die Gesellschaften selbst aufgrund der Höhe der Anlagevermögen und erforderlicher längerfristiger Investitionsentscheidungen auf der Hand. So wurden bereits Tochterunternehmen ins Leben gerufen, die sich ausschließlich nachhaltigen Lebensversicherungen verschreiben. Aber es wurden auch Neugründungen im Sachbereich vorangetrieben. Und zahlreiche Produktinnovationen eingeführt, wie beispielsweise nachhaltige Haftpflichtversicherungen, die Mehrleistungen für nachhaltigen Schadenersatz übernehmen. Im Krankenversicherungsbereich lohnt es, sich stärker über soziale und ökonomische Nachhaltigkeitsaspekte zu profilieren, und auch hierzu werden schon erste Anfänge gesetzt.
Beim Thema Nachhaltigkeit ist die Branche ohne Zweifel auf dem Weg. Allerdings wirkt die Branche hier immer noch inhomogen. Haben Sie eine Erklärung hierfür? Und was müssen die Gesellschaften unternehmen, damit der Umbruch gelingt?
Brocke: Aktuell ist in puncto Nachhaltigkeit deutliche Bewegung im Versicherungsmarkt erkennbar – auch wenn manches davon noch an der Oberfläche bleibt, und auch noch nicht durchschlagend in der Breite der Versicherungskundschaft angekommen ist. Die große Richtung erscheint aber eindeutig und auch nicht mehr umkehrbar. Die Pflöcke im Nachhaltigkeitsfeld werden gerade erst eingeschlagen, Felder kultiviert, die Saat eingebracht. Nachhaltigkeit braucht quasi selbst Nachhaltigkeit. Mit Blick auf die Anbieter – und deren Wahrnehmung durch die Versicherungskunden – wäre Nicht-Handeln dabei auch ein Handeln, Nicht-Kommunizieren auch ein Kommunizieren. Die Mehrheit der Kunden ist jedenfalls offen und bereit, auf den sie überzeugenden Nachhaltigkeitswegen Schritt für Schritt mitzugehen. Es bleibt daher – auch aus unmittelbarer marktforscherischer Sicht – spannend, die weitere Entwicklung, Profilierung und Transformation intensiv zu beleuchten und aktiv zu begleiten.