Interview mit Ulrich Mitzlaff und Olaf Engemann: „Es ist wichtig, aus der Tabuzone herauszukommen“

Foto: Thomas Bernhardt
SDK-Vorstandsvorsitzender Dr. Ulrich Mitzlaff und Vertriebsvorstand Olaf Engemann (re.)

Über die private Krankenversicherung wird viel spekuliert. Cash. diskutierte mit SDK-Vorstandschef Ulrich Mitzlaff und Vertriebsvorstand Olaf Engemann über die Zukunft der Gesundheitsvorsorge, die Lücken in der Pflegeversicherung und Herausforderungen durch KI und E-Health (Teil 2 des Strategiegesprächs)

Laut der Studie der Unternehmensberatung Deloitte „Private Krankenversicherung – Die Zukunft ist digital“ tun sich durch die technologischen Innovationen immer mehr Möglichkeiten in puncto Kundenausrichtung und Effizienzsteigerung auf. Die Digitalisierung ist einer der größten Treiber für Veränderungen in der PKV. In welchen Bereichen sehen Sie die deutlichsten Entwicklungen?

Mitzlaff: Zunächst einmal an allen kundenbezogenen Stellen, Abläufen und Prozessen. Also dem Kundenservice, der Leistungsbearbeitung, der Vertragsbearbeitung, der Risikoprüfung. Dort wo über die alten Systeme noch ein großer Anteil über manuelle Tätigkeiten erfolgt, also die personalintensivsten Bereiche. Und hier versprechen wir uns eine große Entwicklung. Auch wir sind natürlich mit einer App unterwegs, mit der sich Leistungen einreichen lassen. 2024 ist der Rückkanal geplant. Das bringt eine Menge Komfort für die Kunden und Effizienzen für den Versicherer.


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Die Zielrichtung muss sein: Alles, was wir können, werden wir standardisieren und automatisieren. Dabei gilt es: Zeitfallen zu vermeiden, Fehlerquellen auszuschalten und die Arbeitsplätze attraktiver zu machen. Der große Irrglauben, den man als Außenstehender gewinnt, wenn man auf eine Versicherung und diese Entwicklungen schaut, ist, dass dadurch Arbeitsplätze wegfallen. Wir müssen aber deshalb digitalisieren und automatisieren, weil es uns nicht gelingen wird, die natürliche Fluktuation durch Neueinstellungen aufzufangen.

Gleichzeitig macht es die Arbeitsplätze auch attraktiver. Es geht darum, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Freiräume zu schaffen, um sich um Kunden zu kümmern, wenn es für diese wirklich zählt! Die Automatisierung ist aus Kunden- und aus demografischer Sicht also zwingend erforderlich.

„Wir setzen nach wie vor auf die persönliche Beratung“

Olaf Engemann

Engemann: Das gilt auch für die Kundenschnittstelle zum Vertrieb. Wenn wir beispielsweise auf eine Zahnzusatzversicherung schauen, laufen rund 50 Prozent der Neugeschäftsproduktion dunkel. Dabei wird – wenn Angebot, Antrag und Gesundheitsfragen unkritisch sind – die Police bereits am kommenden Tag an den Kunden verschickt. Aber dies wird nicht dazu führen, dass alles digital läuft. Wenn ich in die Generation Z oder Y hineineinhöre, dürfen für die Informationen gerne digital sein.

Wenn man sich dann aber konkret mit einer Pflege- oder Vollversicherung auseinandersetzt, darf die Beratung dann doch gerne persönlich sein. Wir setzen also nach wie vor auf die persönliche Beratung, die Präsenz vor Ort, dann wenn es notwendig ist, also anlassbezogen. Was die Dunkelverarbeitung betrifft, kann die durchaus gegen 90 Prozent laufen. Das setzt wieder Kapazitäten in der Vertrags- und Bestandsbearbeitung frei, die wir anderweitig sehr gut einsetzen können.

Hier fiel vorhin der Begriff Fachkräftemangel. Wie stark sind die Sorgen bei der SDK?

Mitzlaff: Es gibt Bereiche, da haben wir weniger Probleme. Im Leistungsbereich und Vertragsbereich gewinnen wir sehr viel medizinisches Personal – Pflegekräfte, Zahnarzthelferinnen, Krankenschwestern. Ob es in zehn Jahren ebenfalls so ist, vermag ich nicht zu sagen. Deutlich schwieriger ist es in der IT. Hier sind wir in Konkurrenz zu Daimler, Bosch, Allianz.

Da hat die SDK nicht die gleiche Strahlkraft wie ein internationales Unternehmen. Da müssen wir mit anderen Vorzügen überzeugen. Warum kommen die Leute zu uns? Weil sie hier einen Umgang und eine Wertschätzung erleben, die es anderswo so nicht gibt. Sie sind hier nicht das Rädchen im Getriebe. Wir hatten zum Jahresbeginn in der IT etwa 34 offene Stellen. Bis Ende Dezember 2023 waren davon mehr als 20 neu besetzt. Das hat auch mit einer Intensivierung der Rekrutierungsbemühungen zu tun.

2023 war ChatGPT in aller Munde. Nahezu jeder Versicherer beschäftigt sich inzwischen damit. Welche Rolle spielt die KI bei Ihnen inzwischen?

Mitzlaff: Wie sehen eine Menge Einsatzmöglichkeiten und wir pilotieren derzeit auch mit ChatGPT. Es ist aber erforderlich, den Mitarbeitenden die Angst davor zu nehmen. Insofern ist es wichtig, Use-Cases zu finden, bei denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehen, wie groß die Hilfe ist. Natürlich kann ich mir wahnsinnig viele Einsatzmöglichkeiten vorstellen. In der Co-Prüfung, in der Analyse von Zielgruppen und Potenzialen.

Wir haben aktuell zehn Use-Cases in unserem Innovationsteam entwickelt und sind dabei, den ersten zu pilotieren. Das haben wir im September 2023 im Rahmen von sogenannten Zukunftsdialogen bei unseren Mitarbeitenden vorgestellt. Und es hat für Begeisterung gesorgt. Es geht darum, zu unterstützen und etwa durch KI-gestützte schnellere Recherche die Kompetenz gegenüber dem Anrufer zu stärken. Ich gehe davon aus, dass wir im 1. Halbjahr 2024 den ersten Piloten in die Anwendung im Kundenservice bringen.

Engemann: Und dieser Use-Case ist dann eins-zu-eins auch für den Vertrieb nutzbar. Wir professionalisieren unsere Vertriebspartner an der Kundenschnittstelle, ohne dort zu kannibalisieren. Man muss aber aufpassen, auf welche Use-Cases man setzt.

Stichwort E-Health: Dort gab es im Zuge der Corona-Pandemie radikale Entwicklungssprünge. Welche Rolle spielen digitale Produkte oder Services wie Apps zur Therapieunterstützung, elektronische Patientenakte, Telemedizin, E-Rezepte und ePortale bei Ihnen?

Mitzlaff: Nach meiner Wahrnehmung zünden von den komplett elektronischen Angeboten bei den Kunden bislang wenige so richtig. Es sind tatsächlich mehr die analogen und/oder hybriden Dinge, die überzeugen. Beispielsweise unser Long-Covidprogramm, oder das Impfen zu Hause. Hier wird in nächster Zeit sicherlich noch mehr Schwung in die Entwicklung kommen. Wobei die datenschutzrechtlichen Vorgaben hoch sind und erst einmal erfüllt werden müssen.

Ein Sorgenkind bleibt die Pflegeabsicherung. Hier wurde bislang immer noch nicht der richtige Zugang zu den Kunden gefunden und eine Besserung ist aktuell nicht in Sicht, da hohe Beitragsanpassungen und unsichere politische Rahmenbedingungen die Ausgangslage nicht verbessern. Warum ist es vertrieblich kaum von Belang, obwohl die Pflegeabsicherung mindestens ebenso wichtig wäre, wie eine Absicherung gegen Berufsunfähigkeit?

Mitzlaff: Hier ist es wichtig, aus der Tabuzone herauszukommen. Vor zehn oder 15 Jahren sah es anders aus. Heute kennt jeder jenseits der 40 jemanden, der pflegebedürftig ist. Tendenz steigend. Und wir wissen, dass jeder Zweite zum Pflegefall wird. Die Frage ist, wie lange die Pflegephase dauert. Neben der Absicherung ist die Prävention wichtig. Denn die eigene Pflegezeit lässt sich durch einen entsprechenden Lebenswandel verkürzen.

Es gibt Studien, die dies zu belegen scheinen. Die zweite Frage betrifft die Absicherung. Da sehen wir die bKV als eine große Chance, über die bPV, die betriebliche Pflegeversicherung, zu sprechen. Die meisten werden nicht während ihrer aktiven Berufszeit zu Pflegefällen, sondern nach dem Berufsleben. Aber es wird zunehmend Ausfallzeiten geben; weil die Berufstätigen Angehörige pflegen. Also brauchen wir Absicherung für Ausfallzeiten in Betrieben, wenn Angehörige gepflegt werden müssen. Wir müssen das aktiv und breit kommunizieren und das Bewusstsein schaffen, dass man entsprechend vorsorgt.

„Es gibt Studien des PKV-Verbandes zur Entwicklung der Beiträge bis 2043, die zeigen, dass wir bei einem Beitragssatz für die soziale Pflegeversicherung von 16 Prozent landen können“

Ulrich Mitzlaff

Es hapert aber auch deutlich im vertrieblichen Bereich. Und wenn der Vertrieb als Transmissionsriemen nicht mitspielt, wird auch die bPV nicht in der Breite Kunden finden.

Mitzlaff: Es ist ein Thema, ohne Frage. Aber wir können es als Versicherer nicht allein lösen. Die Pflegeversicherung war nie als Vollversicherung konzipiert worden. Heute wird es von der Politik aber so angestrebt. Wenn man die Pflegeversicherung als Vollkaskoversicherung möchte, muss es finanzierbar sein. Es gibt Studien des PKV-Verbandes zur Entwicklung der Beiträge bis 2043, die zeigen, dass wir bei einem Beitragssatz für die soziale Pflegeversicherung von 16 Prozent landen können.

Wenn die hinzukommen, wäre das ein Turbo für die Beiträge. Und wenn sie an die Privatversicherten denken, die in der PKV bestimmten Berufsgruppe zugeordnet sind, Beamte, Selbstständige, Angestellte, haben Sie einen doppelten Effekt.

Das heißt?

Mitzlaff: Erst einmal müssen die Leistungsausweitungen in der Pflegepflichtversicherung in die private Pflegepflichtversicherung übernommen werden. Diese sind dort ursprünglich aber nicht einkalkuliert worden. Dadurch steigen zwangsläufig die Beiträge. Hinzu kommt, dass für die Leistungen keine Alterungsrückstellungen aufgebaut wurden. Also haben Sie einen doppelten Effekt. Man muss hier auch an die Selbstständigen denken. Die können ihre Beiträge noch nicht einmal durch den Arbeitgeberanteil verdünnen. Sie zahlen also doppelt.

Verstehe ich das richtig. Sie zögern die Pflege vertrieblich stärker in den Fokus zu rücken, weil die politischen Rahmenbedingungen unsicher sind?

Mitzlaff: Wenn wir vertrieblich in die Offensive gehen und die Politik bringt die Pflegevollversicherung, sind die Beiträge nicht mehr zu kalkulieren. Das wird nicht zur Kundenzufriedenheit beitragen, sondern dazu führen, dass sie ihre Pflegeversicherung kündigen. Die Kosten für die stationäre Pflege sind enorm. Die Politik muss die Zeit, die ihr noch bleibt, nutzen.

Bei der Kranken und Rentenversicherung haben wir schon unglaublich viel Zeit verloren, bei der Pflegeversicherung haben wir noch ein Riesenchance. Die Babyboomer gehen in den kommenden Jahren in den Ruhestand. Bis die Pflegefälle werden, vergehen also noch 15 oder 20 Jahre. Und die Zeit müssen wir gesellschaftlich und sozialpolitisch nutzen, um einen Kapitalstock in der Pflege aufzubauen.

Dann sollten Sie mit Bundesfinanzminister Christian Lindner über die Finanzierung sprechen.

Mitzlaff: In der Pflege wird man nicht einen so großen Kapitalstock benötigen, wie bei der Gesundheit. Wir sprechen hier von rund 20 Milliarden Euro. In 15 bis 20 Jahren muss es möglich sein, einen solchen Kapitalstock aufzubauen. Ein Teil des politischen Spektrums hat Sorgen vor dem Kapitalmarkt. Und diejenigen, die den Kapitalmarkt gut finden, haben Sorge vor den Eingriffen des Staates.

Der Atom-Fonds ist ein gutes Beispiel dafür, wie es funktionieren könnte. Dort kann der Staat nicht einfach zugreifen, weil das Geld gebunden ist. Und so müsste es in der Aktienpflegerente ebenfalls gehen. Man muss hier eine chinesische Mauer aufbauen. Damit klar ist, dass es hier keinen Zugriff für den Staat geben kann.

Wo sehen Sie die großen Herausforderungen bei den privaten Krankenversicherern in den kommenden Jahren? Wohin wird sich der Markt entwickeln?

Engemann: Wir wollen in 2024 in der Vollvesicherung und in der bKV weiterwachsen. Eine der Herausforderungen ist die Frage, wie sich die politischen Rahmenbedingungen entwickeln. Im Herbst 2025 sind Bundestagswahlen. Und ein Thema, was uns und alle Versicherer beschäftigt, ist die stetig zunehmende Regulatorik. Das ist schon belastend. Dennoch: Wir glauben weiter an die Vollversicherung und setzen darauf. Weil es definitiv weiteren Bedarf geben wird. Die Menschen achten auf die Gesundheit.

Mitzlaff: Die Regulatorik entwickelt sich in der Tat zu einer immer größeren Herausforderung. Wir werden ab 2025 die Nachhaltigkeitsberichterstattung über das jeweilige vorangegangene Geschäftsjahr haben. Da fehlt uns das Äquivalenzprinzip. Wir müssen die gleichen Anforderungen erfüllen, wie Großunternehmen.

Die Definition von Großunternehmen liegt bei einem Umsatz von 20 Millionen Euro. Zeigen Sie mir einen Versicherer, der weniger als 20 Millionen Euro Beitragseinnahmen hat. Heißt also, es gelten die gleichen Vorgaben, unabhängig von der Größe. Und das wird noch zunehmen. Es ist offensichtlich, dass es der Politik der EU nicht gelungen ist, über den Güterkreislauf genügend im Bereich Nachhaltigkeit zu erreichen. Also geht man nun an den Geldkreislauf.

Ob wir aber unsere Flotte komplett auf E-Mobilität umstellen oder nicht, oder ob wir komplett auf Ökostrom umstellen, wird keine deutlich spürbare Wirkung hinterlassen. Solche Maßnahmen sind vergleichsweise kleine Hebel, die aber für uns mit enormen Aufwänden verbunden sind. Bei der Kapitalanlage sieht das anders aus. Ein Versicherer wie die SDK hat eine Kapitalanlage von etwa acht Milliarden Euro. Letztlich lässt sich in der Versicherungswirtschaft vor allem über die Kapitalanlage etwas erreichen.

„Wir müssen die Zeit, die uns bleibt, bis die Babyboomer Pflegefälle werden, aktiv nutzen“

Ulrich Mitzlaff

Die hierzu aufgekommene Regulatorik scheint mir den Blick auf den unterschiedlichen Wirkungsgrad verschiedener Maßnahmen zu verstellen. Als weitere Herausforderung sehe ich die Pflege. Da haben wir als Versicherer eine gesellschaftliche Verantwortung, das Thema in den Vordergrund zu rücken. Und auch hier: Wir müssen die Zeit, die uns bleibt, bis die Babyboomer Pflegefälle werden, aktiv nutzen. (Zu Teil 1 des Strategiegesprächs geht es hier)

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