Der Countdown läuft: Durch die ESG-Regulierung der EU, weitere rechtliche Vorgaben und das zunehmende Kundeninteresse ist Nachhaltigkeit spätestens ab Herbst zwingend in Anlageberatung und Versicherungsvermittlung zu integrieren. Schon ab 2. August müssen Finanzberaterinnen und Finanzberater ihre Kunden zu deren Nachhaltigkeitspräferenzen befragen. Entsprechend groß sind die Bemühungen in der Branche, sich optimal darauf vorzubereiten – doch das ist gar nicht so einfach. „Wir wissen von unseren Mitgliedern, dass die Vorbereitungen auf Hochtouren laufen und damit einhergehend eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema stattfindet. In vielen Webinaren und Schulungsveranstaltungen werden die fachlichen Grundlagen für die Ermittlung der Nachhaltigkeitspräferenz gelegt“, stellt Volker Weber fest, Vorstandsvorsitzender des FNG Forum Nachhaltige Geldanlagen, ein Fachverband für nachhaltige Geldanlagen in Deutschland, Österreich, Liechtenstein und der Schweiz. Hinderlich sei aber, dass es noch viele offene Fragen über das konkrete Vorgehen gebe.
Die Folgen können Aus- und Weiterbildungsanbieter wie Hartmut Petersmann schon jetzt beobachten: „Der geringste Anteil aller Berater ist professionell vorbereitet. Das Niveau ist noch häufig mit der diffusen Vorstellung auf Kundenseite zu vergleichen“, erklärt der Gründer und Geschäftsführer des Petersmann Instituts. Die Vermittler seien überwiegend gar nicht auf die Abfragepflicht vorbereitet – weder inhaltlich, noch technisch oder mental. „Der Blick in die Branche bietet ein sehr uneinheitliches Bild, wobei die Unternehmen, die ein klares Bild davon haben, wie sie die Abfragepflicht rechtssicher und zugleich für Vermittler und Verbraucher praktikabel umsetzen, in der Minderheit zu sein scheinen“, sagt auch Dr. Klaus Möller, Vorstand des Defino Instituts für Finanznorm. Dabei könnten gut vorbereitete, ausgebildete „Nachhaltigkeitsberater“ laut Petersmann sehr erfolgreich dabei sein, den potentiellen Investor abzuholen, weil dieser ohnehin ausreichend emotionalisiert und motiviert sei. „Vor allem kann der professionelle Berater heute schon die ‚Fifty Shades of Green‘ erkennen, unterscheiden und einsetzen – ob im Wertpapierbereich oder im Sachwertebereich, am besten beides.“ Dies sei aber nur die Beschreibung des Status quo, Petersmann ist optimistisch: „Nachhaltigkeit, nachhaltiges Investieren und die Produktentwicklung sowie die Ausbildung dazu ist ein stetiger Prozess, nimmt immer mehr zu und wird bald schon das neue Selbstverständnis sein.“
Doch der Weg dahin ist holprig – so holprig, dass der Maklerverband Votum im Frühjahr in einem offenen Brief an die Europäische Kommission sogar die Verschiebung des Inkrafttretens der Abfragepflicht gefordert hat. Der Hintergrund: Der ursprüngliche Gesetzgebungszeitplan sah vor, dass sieben Monate vor der Fragepflicht verbindliche technische Regulierungs-Standards dafür festgelegt sind, was als nachhaltig gilt. Nun treten diese Standards erst fünf Monate nach der Pflicht zur Ermittlung der Nachhaltigkeitspräferenzen in Kraft. „Haftungssichere Produktempfehlungen können daher ab August noch gar nicht abgegeben werden“, kritisierte Votum-Chef Martin Klein im Interview mit Cash. (Ausgabe 5/22).
Petersmann schließt sich seiner Schlussfolgerung an. „Wenn ich die Präferenzen des Kunden abfrage und Antworten bekomme, geht der Kunde zurecht davon aus, dass ich mit diesen Informationen auch etwas anfange und seine Präferenzen bei der Investition berücksichtige. Wenn mir aber niemand sagt, wie und nach welchen Kriterien dies erfolgen soll, stehe ich als Berater im Zweifel in der Haftung.“ Aus diesem Grund sei eine logische Reihenfolge wünschenswert. „Ansonsten wird die Abfrage so erfolgen, dass der Kunde im Ergebnis keine eigenen Vorstellungen hat oder sie so nebulös festgehalten werden, dass ohnehin niemand etwas damit anfangen kann. Damit ist niemandem geholfen, schon gar nicht der richtigen Intention des Gesetzgebers Rechnung getragen. Das Thema ist so spannend, wichtig und richtig, dass es mir lieber wäre, die Berater sind mit Spaß und erfolgreichen Geschäftsideen unterwegs als ängstlich, verunsichert und genervt wie aktuell.“
Sollte die Abfragepflicht also verschoben werden? Diese Frage müsse man zweigeteilt beantworten, meint Ronald Perschke, Vorstand der Going Public Akademie für Finanzberatung: „Aus Sicht der Regulatorik wäre es natürlich vollkommen folgerichtig, die Beratungspflichten erst zu fordern, wenn ich für diese als Regulierer auch umsetzbare Standards entwickelt habe. Als Berater würde ich allerdings nicht nur auf die Regulatorik starren, denn letztlich verliert man Zeit und Marktvorsprung, wenn man auf den Gesetzgeber wartet.“ Das Thema ESG biete beim Kunden positiv unterlegtes Absatzpotential. Deshalb rät Perschke allen Beratern, sich schnell Beratungskompetenz anzueignen und diese beim Kunden anzuwenden. Weber plädiert dafür, am geplanten Termin festzuhalten, um damit den Finanzvermittlern in der Übergangszeit – bis die Regulierungsstandards zur Verfügung stehen – zu ermöglichen, Erfahrung mit dem Thema Nachhaltigkeitspräferenzen zu sammeln.
34f-Vermittler vorerst ausgenommen
Zu einer Verschiebung wird man die Europäische Kommission offenbar auch nicht mehr bewegen können. „Wir sind mit unserer Forderung sowohl bei den Praktikern in den Abteilungen der EIOPA und der ESMA als auch beim deutschen Finanzministerium auf Zustimmung gestoßen. Die Kommission wird eine Verschiebung des Inkrafttretens der Nachfragepflicht jedoch nicht in Angriff nehmen“, betonte Klein im Interview mit Cash. Zu groß sei der gefürchtete Imageschaden für das politisch exponierte Vorhaben. „Die Aufsichten sollen angewiesen werden, im ersten Jahr der Geltung der Nachfragepflicht nachsichtig zu sein. Dies reicht jedoch nicht aus und wir werden bei Votum für die Vermittler entsprechende Kundenhinweise entwickeln, die über die Situation aufklären, um Haftungssicherheit zu gewähren“, kündigt er an.
Offiziell bestätigt ist mittlerweile, dass Finanzdienstleister mit einer Zulassung nach Paragraf 34f Gewerbeordnung (GewO) von der ESG-Abfragepflicht ausgenommen sind. „Im Austausch mit dem Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) hat man uns nun offiziell bestätigt, dass die maßgebliche Delegierte Verordnung 2017/565 in der ab August geltenden Fassung ausschließlich von Wertpapierfirmen im Rahmen der Geeignetheitsprüfung berücksichtigt werden muss und keine direkte Anwendung auf Paragraf 34f-Vermittler findet. Auch die Finanzanlagenvermittlerverordnung (FinVermV), die zwar auf Artikel 54 der Delegierten Verordnung verweist, führt nicht zu einer Verpflichtung zur Erfassung der Nachhaltigkeitspräferenzen, da es sich nach Auskunft des BMWK um einen starren Verweis auf den Stand der Verordnung mit den Änderungen durch die Verordnung (EU) 2017/2294 handelt und somit spätere Änderungen der Verordnung nicht durch die Verweisung erfasst sind“, erklärte Votum-Chef Klein Mitte Juni.
Die Auskunft des Ministeriums sei damit eindeutig: „Finanzanlagenvermittler sind weder auf Grund von direkt geltenden EU-Recht noch durch die FinVermV rechtlich verpflichtet, die Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kunden zu ermitteln.“ Gleichzeitig werde von dem Ministerium jedoch die Hoffnung geäußert, dass die Finanzanlagenvermittler diese Anforderung freiwillig erfüllen. „Wir gehen aufgrund ergänzender Informationen davon aus, dass es bei diesem Appell zur Freiwilligkeit nicht bleiben wird, sondern der Gesetzgeber aktiv werden muss“, so Klein weiter.
Diese Annahme beruhe auf der Regelung des Artikel 3 Absatz 2 der Mifid II: Mitgliedsstaaten, die von der sogenannten Bereichsausnahme Gebrauch machen, sind verpflichtet, hinsichtlich der Anforderungen an die Berufsausübung der der Bereichsausnahme unterliegenden Personen bzgl. des Verbraucherschutzes die gleichen Wohlverhaltensregeln umzusetzen, wie sie für Wertpapierfirmen gelten. Zu den Wohlverhaltensregeln gehört insbesondere die Durchführung einer vollständigen Geeignetheitsprüfung, so dass der deutsche Gesetzgeber nach Einschätzung von Votum gezwungen sein wird, die FinVermV kurzfristig anzupassen.
„Die Mühlen des Gesetzgebers mahlen bekanntlich langsam. Es ist demnach nicht damit zu rechnen, dass dieses Verfahren zur Anpassung der Verordnung, bei dem auch der Bundesrat beteiligt werden muss, vor dem 2. August 2022 abgeschlossen sein wird. Die nächstmögliche Plenarsitzung erfolgt am 8. Juni. Bis dahin ist nicht damit zu rechnen, dass eine entsprechende Vorlage erstellt wird. Damit steht die Branche nunmehr vor der absurden Situation, dass ein Versicherungsvermittler gesetzlich verpflichtet ist, Nachhaltigkeitspräferenzen zu ermitteln, sofern er eine fondsgebundene Lebensversicherung vermittelt – der gleiche Vermittler hierzu jedoch nicht verpflichtet ist, wenn er einen Fondssparplan vermittelt“, kritisierte Klein. Dennoch seien Vermittler gut beraten, sich so früh wie möglich auf den Weg zu machen, die Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kunden zu erfragen.
Kein großer Zeitfresser
Um sie dabei zu unterstützen, hat die Branche Hilfen und Standards für die Umsetzung in der Beratung geschaffen. „Erwähnt sei exemplarisch die DIN-Norm 77230. Damit haben Beraterinnen und Berater bereits das notwendige Handwerkszeug zur Verfügung, um die Thematik beim Kunden zu analysieren“, so Perschke. Das ESG-Modul „Abfrage von Nachhaltigkeitspräferenzen“ soll künftig als Bestandteil der ganzheitlichen DIN-Norm 77230 „Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte“ anwendbar sein – aber auch losgelöst davon. „Die Verbraucher werden sehr bald den berechtigten Anspruch stellen, dass ihre Nachhaltigkeitspräferenzen in allen Finanzthemen ihren Niederschlag finden“, erwartet Defino-Vorstand Möller, der auch Obmann des DIN-Arbeitsausschusses „Finanzdienstleistungen für den Privathaushalt“ ist. Das ESG-Modul solle Verbrauchern Schutz vor manipulativer Abfrage gewähren und ihnen ermöglichen, sich weitgehend unbeeinflusst über ihre Nachhaltigkeitspräferenzen klarzuwerden, erklärt Möller.
Der Entwurf des ESG-Moduls wurde Anfang Mai veröffentlicht und liegt der Öffentlichkeit nun bis zum 6. Juli zur Einsicht und Stellungnahme vor. Anschließend können nach Defino-Angaben noch Optimierungen eingearbeitet werden, so dass das Modul im August verfügbar sein soll. Die Übernahme des Moduls zur Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen ist laut Möller eine Möglichkeit der Vorbereitung auf die neuen Anforderungen. „Einige der für ihre DIN-Analyse-Applikationen bekannten Softwarehäuser werden rechtzeitig die nötigen Tools anbieten. Und die großen Qualifizierer bieten ebenso Unterstützung durch Schulungen an wie die Vermittlerverbände in Form von Leitfäden.“ Als zur Neutralität verpflichteter Zertifizierer könne Defino zwar selbst keine Qualifizierungsmaßnahmen oder Software zur Unterstützung anbieten. „Wir helfen aber gerne mit Informationen über die uns bekannten Maßnahmen und Instrumente“, sagt Möller.
Helfen will auch das FNG. „Mit der FNG-Akademie haben wir ein breites Angebot für verschiedene Bedürfnisse: Bestehend aus fünf Paketen ist die Weiterbildung sowohl für einen kompakten Einstieg mit oder ohne Vorkenntnissen sowie auch für Spezialisten, Manager oder Entscheidungsträger geeignet“, erklärt Weber. Darüber hinaus entwickelt das FNG derzeit als Antwort auf die erwartete hohe Nachfrage nach Qualifizierung zu Nachhaltigkeitsthemen gemeinsam mit der Österreichischen Gesellschaft für Umwelt und Technik (ÖGUT), dem Forum pour l’Investissement Responsable (FIR) und dem Forum per la Finanza Sostenibile (ItaSIF) ein E-Learning-Tool mit Fokus auf EU-Regulierung. Das Tool soll auf Englisch und Deutsch zur Verfügung gestellt werden und kostenlos zugänglich sein. Zudem werde der im November 2020 veröffentlichte Beraterleitfaden aktuell angepasst, so Weber.
Ein großer Zeitfresser scheint die Weiterbildung in Sachen Nachhaltigkeit nicht zu sein – zumindest sind laut Perschke keine wochenlangen Kurse nötig, um die Thematik in den Griff zu bekommen. „Wir bieten mit dem Kurs ‚Fachmann*frau für nachhaltige Kapitalanlage (GP)‘ ein kompaktes Schulungskonzept. Durch Webbased-Training, Lernunterlagen und ein halbtägiges Webinar werden zunächst die regulatorischen und fachlichen Standards erarbeitet. Im Fokus steht dann in einem 1,5-tägigen Webinar das Training der Analyse- und Beratungskompetenz, also die praktische Umsetzung der Thematik in die Kundenberatung.“
Das Petersmann Institut hat zu Jahresbeginn mit der ESG-Akademie eine Aus- und Weiterbildungsplattform für nachhaltiges Investieren ins Leben gerufen – gemeinsam mit dem Edutainment-Spezialisten e-Mission aus Berlin. Damit sollen vor allem nach Gewerbeordnung regulierte Finanzberater dazu qualifiziert werden, bei nachhaltigen Investments professionell zu beraten. „Das neu entwickelte Tool vermittelt nicht nur ein breites Basiswissen als Grundlage für ein erfolgreiches Geschäftsmodell, sondern es vermittelt vor allem Spaß beim Lernen durch viele Filme, Beiträge und Interviews mit namhaften Spezialisten. Ein echtes Edutainment-Tool. Starten – fortsetzen, wann immer man möchte und Zeit hat – nach sechs Einheiten und sechs Stunden sieht die Welt dann schon ganz anders aus“, verspricht Petersmann. Im Idealfall können Beraterinnen und Berater dann auch die „Fifty Shades of Green“ unterscheiden.
Kim Brodtmann, Cash.