Nachhaltigkeit ist unbestritten das gesellschaftliche und wirtschaftliche Gebot unserer Zeit. Im Rahmen einer Aktualisierung der Delegierten Rechtsakte zur Markets in Financial Instruments Directive II (MiFID II) müssen Anlageberater ihre Kunden seit dem 2. August 2022 über Nachhaltigkeit und damit verbundene Risiken in Anlageprodukten aufklären sowie zu ihren Präferenzen befragen. Eine für das Frühjahr 2023 geplante Änderung der FinVermV soll dies auch für selbstständige Anlageberater verpflichtend machen. Zur Untermauerung dessen sollen nachhaltige Finanzanlageprodukte Gegenstand der Sachkundeprüfung werden. Da Begrifflichkeiten wie „nachhaltig“, „grün“ oder „CO2-neutral“ weder geschützt noch präzise definiert sind, entwickelten die EU-Staaten mit der EU-Taxonomie ein Regelwerk zur Definition von Nachhaltigkeit. Doch es mangelt noch immer an klaren Kriterien und überprüfbaren Daten.
Auf welcher Grundlage können Finanzexperten überhaupt im Beratungsgespräch agieren? Die EU verlangt von Fondsanbietern, ihre Produkte in eine von drei Kategorien nach der Offenlegungsverordnung von 2021 einzuordnen:
● Artikel-6-Fonds ohne Nachhaltigkeitsanspruch
● Artikel-8-Fonds mit Nachhaltigkeitsansatz
● Artikel-9-Fonds mit explizit nachhaltigem Investitionsziel
Die ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) wiederum entsprechen einem Nachhaltigkeitsverständnis, das nicht nur auf die Reduktion von Treibhausgasemissionen beschränkt ist. Neben Umweltaspekten wie Klimastrategie, Energiemanagement oder CO2-Bilanz integriert ESG auch soziale (zum Beispiel Chancengleichheit, Lieferkettenmanagement) und unternehmerische (zum Beispiel Vergütung, Compliance, Steuerpolitik) Faktoren. Doch auch hier existieren keine einheitlichen Standards.
Wie unterscheidet sich der „Ansatz“ vom „Anspruch“? Wodurch zeichnet sich eine Strategie als „stark wirkungsorientiert“ aus? Und wie ist eigentlich der Begriff Nachhaltigkeit im Kontext der Offenlegungsverordnung definiert? Im Moment scheinen die EU-Kriterien mehr Fragen aufzuwerfen, als Antworten zu liefern. Das zeigen auch die Ergebnisse einer Marktumfrage, die KPMG unter deutschen Finanzinstituten durchgeführt hat: Vier von fünf Teilnehmenden geben an, die aktuelle ESG-Regulatorik im Wertpapierbereich sei „überwiegend nicht“ oder „gar nicht verständlich“. Die Tatsache, dass der Begriff CO2-neutral weder geschützt noch wissenschaftlich eindeutig definiert ist, macht die Situation nicht einfacher. Und auch die umstrittene Entscheidung der EU, Atomkraft und Gas als klimafreundliche Energie(-träger) einzustufen, trägt nicht zur Schärfung des Begriffs Nachhaltigkeit bei.
Die MiFID-II-Richtlinie, deren Umsetzung in Deutschland die Finanzaufsicht BaFin überwacht, verpflichtet Anbieter also nicht nur zur Information über ein unklar definiertes Produkt, sie überlässt ihnen auch den Löwenanteil der Beweislast. Wenig überraschend ist daher der Umstand, dass die Hälfte der Befragten der KPMG-Marktumfrage den aktuellen Stand der Regulatorik für nicht sinnvoll hält. Das könnte ein Grund sein, warum einige Institute in den vergangenen Monaten diverse Artikel-9-Produkte auf Artikel 8 herabstuften. Wissenschaftliche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass nur jeder dritte Fonds seiner Artikel-9-Zertifizierung gerecht wird. Laut einer Auswertung der Onlineplattform Cleanvest verfügen einige Artikel-9-Aktienfonds über Anteile an Öl-Unternehmen von mehreren Prozent. Die ESMA-Eco-Label-Studie kam vor wenigen Wochen gar zu dem Ergebnis, dass derzeit nur 16 von 3.000 Fonds den EU-Eco-Label-Anforderungen gerecht werden.
Damit Institute und selbstständige Anlageberater in dieser Situation nicht den Überblick verlieren, hat die Finanzbranche mit der Beteiligung des Bundesverbands Investment und Asset Management (BVI), des Deutschen Derivate Verbands (DDV) und des Bankenverbands DKV das ESG-Zielmarktkonzept erarbeitet. Dieser freiwillige Marktstandard im deutschen Raum definiert Nachhaltigkeit auf drei Ebenen:
● Vermeidung negativer Auswirkungen
● Nachhaltige Investitionen nach der Offenlegungsverordnung der EU
● Nachhaltige Investitionen nach der EU-Taxonomie-Verordnung
Diese Kriterien stellen theoretisch eine gute Richtlinie dar. In der Praxis ist es für den Berater allerdings sehr schwierig, seine Produkte daraufhin zu überprüfen. Zuverlässigere Kontrollinstrumente als das Vertrauen in die Aussagen der Unternehmen gibt es kaum. Laut BVI existieren derzeit wenig Finanzprodukte, die als konform mit der EU-Taxonomie gelten können.
Im Beratungsgespräch kommt es daher mehr denn je auf Soft Skills an: Berater sollten bei den Wünschen und Vorstellungen der Kunden aufmerksam zuhören, Drittmeinungen heranziehen und die angebotenen Produkte möglichst unabhängig einschätzen, etwa basierend auf Fondsdatenbanken wie MyFairMoney.
Nicht nur selbstständige Berater, auch Banken müssen in punkto Nachhaltigkeit mit Fachwissen in Vorleistung gehen, wenn sie den EU-Kriterien und eigenen Qualitätsansprüchen gerecht werden wollen. Banken und Fondsanbieter sind verpflichtet, ihre Produkte so zu gestalten, wie sie beworben werden, beispielsweise wenn sie das Prädikat „ESG-freundlich“ nutzen. Will ein Institut zu diesem Zweck nicht selbst ganze Heerscharen von Analysten beschäftigen, was wirtschaftlich und auch zeitlich ohnehin kaum möglich ist, bleibt zur Überprüfung der Nachhaltigkeitskriterien nur der Ankauf entsprechender Daten.
Hier sind diverse ESG-Ratingagenturen aktiv, die auf Fachgebiete, Wirtschaftsregionen oder Gesellschaftsformen (zum Beispiel Börsennotierung) spezialisiert recherchieren. Sie arbeiten entweder auf Basis von Fragebögen oder lassen von ihren Analysten Dossiers erstellen, die den jeweiligen Unternehmen vorgelegt und dann freigegeben werden. Weitere Bewertungsinstrumente sind die Analyse von Nachhaltigkeitsberichten und Webcrawler, also die Auswertung der online über ein Unternehmen vorhandenen Daten. So gewissenhaft eine Ratingagentur hier auch arbeitet – sie hat immer mit der methodischen Schwäche zu kämpfen, darauf angewiesen zu sein, was ein Konzern von sich selbst behauptet oder preisgibt. Auch wenn derartige Erhebungen vermutlich in vielen Fällen zu realitätsnahen Abbildungen der Nachhaltigkeitsqualität eines Unternehmens führen, bleiben sie auf die Aussagekraft einer Schätzung beschränkt. Garantien für Fondsanbieter und scharfe Instrumente zur Verifizierung gibt es nicht. Auch von gesetzlichen Qualitätsstandards für ESG-Ratingagenturen sind wir derzeit noch weit entfernt. In der KPMG-Marktumfrage gibt die große Mehrheit der befragten Bankmitarbeitenden an, die Datenabdeckung externer Datenanbieter sei unzureichend.
Doch es gibt Aussicht auf Verbesserung: Mit der EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung („Corporate Sustainability Reporting Directive“) steht ein echter Quantensprung bevor. Ab 2025 müssen Unternehmen für das jeweils vorangegangene Geschäftsjahr einen auf Fakten basierenden Nachhaltigkeitsbericht erstellen und veröffentlichen, den Wirtschaftsprüfer zudem (zunächst mit begrenzter Prüfungssicherheit) bestätigen müssen. Die Verordnung gilt perspektivisch für Unternehmen, die mindestens zwei der folgenden drei Kriterien erfüllen:
● Bilanzsumme über 20 Millionen Euro
● Umsatz über 40 Millionen Euro
● mehr als 250 Mitarbeitende
Das gilt also für viele Mittelständler und den überragenden Teil der börsennotierten Unternehmen. Diese Maßnahme wird Transparenz und Glaubwürdigkeit in der Nachhaltigkeitsberichterstattung der europäischen Wirtschaft maßgeblich erhöhen und Fondsanbietern das Instrument zur Faktenprüfung in die Hand geben, das ihnen heute fehlt. Bis es so weit ist, bleiben der Branche nur ein langer Atem und Eigeninitiative.
Christoph Betz ist Partner im Bereich Financial Services und für Capital Markets Services sowie die ESG- und Sustainable Finance-Aktivitäten von KPMG im deutschen Bankenmarkt verantwortlich. Martina Köhler ist Managerin im Bereich Financial Services von KPMG und Expertin für ESG & Sustainable Finance.