EXKLUSIV

Warum ESG in der Assekuranz ein Marathon ist

Der verschobene Fokus

Fakt ist, und das bestätigen auch die Recherchen zu diesem Artikel, dass Polykrisen wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, wirtschaftliche Unsicherheiten oder hohe Lebenshaltungskosten den Fokus in Deutschland verschoben haben. Das Interesse an nachhaltigen Geldanlagen wird auch von der aktuellen Nachrichtenlage beeinflusst“, bestätigt Oliver Maier, Geschäftsführer der Verivox Finanzvergleich.

„Vor zwei Jahren war die gesellschaftliche Debatte noch stärker als heute von Themen geprägt, die von vielen Menschen mit Nachhaltigkeit verbunden werden“, so Maier. Wie Langzeitdaten der Forschungsgruppe Wahlen zeigen, zählten etwa Klimaschutz sowie die Transformation der Versorgung weg von fossilen und hin zu regenerativen Energieträgern 2021, also vor dem Ukraine-Krieg, für 40 bis 50 Prozent der Menschen zu den dringlichsten politischen Herausforderungen in Deutschland.

Inzwischen messen nur noch rund 20 Prozent der Deutschen diesen Themen so große Bedeutung bei. „Es gibt Kundengruppen, denen das Thema sehr wichtig ist. Vor allem jüngere Menschen legen Wert darauf, wenn sie gezielt danach gefragt werden“, bestätigt auch Vema-Vorstand Dr. Johannes Neder.

Dr. Johannes Neder, Vorstand Vema
Dr. Johannes Neder, Vorstand Vema

Bremsend wirke am ehesten das noch nicht in der Breite angekommene Wissen der Bevölkerung, dass es überhaupt nachhaltige Altersvorsorgemöglichkeiten gebe und aktuell die meist bessere Entwicklung der konventionellen Fonds. „Hier werden viele Vermittler eher zu der Lösung raten, die höheren Ertrag verspricht“, glaubt Neder. Auch der Stuttgarter Nachhaltigkeitsbeauftragte Bohn sieht das Wissensdefizit sowohl über allgemeine Nachhaltigkeitskriterien als auch über nachhaltige Versicherungsprodukte als eines der größten Hemmnisse.

Regulatorische Hürden

Hinzu kommen aber auch die regulatorischen Hürden: „Die Komplexität entsteht im Rahmen der Nachhaltigkeitspräferenzabfrage. Diese ist zu komplex und unverständlich für den Laien und damit schwer umsetzbar. Mit großem Erklärungsaufwand kann man diese verständlich dem Kunden erklären und beantworten lassen; aber der Aufwand steht, ökonomisch gesehen, in keinem sinnvollen Verhältnis zum Ergebnis“, rügt Makler Baer.

Pangaea Life-Geschäftsführer Daniel Regensburger plädiert angesichts der praxisfernen regulatorischen Anforderungen für eine Vereinfachung und Vereinheitlichung der Standards. „Ich denke da konkret an ein übergreifendes und intuitiv verständliches Label oder eine Klassifizierung ähnlich der von Elektrogeräten in der EU. Diese dürfen in puncto Nachhaltigkeitsvorgaben durchaus anspruchsvoll sein. Natürlich sind Finanzprodukte komplexer als Kühlschränke und Kaffeemaschinen. Wichtig ist aber, dass Regulatorik Transparenz und Orientierung schafft, was die Nachhaltigkeit eines Finanzprodukts betrifft. Ich bin überzeugt, dass dies dem Vertrieb nachhaltiger Produkte einen Boost geben würde“, sagt Regensburger.

Bafin: „Das geht einfacher“

„Die mit der Änderung der Delegierten Verordnung 2017/2359 zum 2. August 2022 eingeführte Terminologie der Nachhaltigkeitspräferenzen ist sowohl für Kunden als auch für Berater ungewohnt und schwer vermittelbar“, erklärt Andreas Kick, Prokurist, Partner und Nachhaltigkeitsexperte bei Institut für Vorsorge und Finanzplanung (IVFP). Der Experte erwartet auch nicht, dass im Vertrieb ein Gewöhnungseffekt einsetzt. Hoffnung mache, dass die Regulierungsbehörde die Transparenzverordnung zur Konsultation stellt.

Unter dem Titel „Das geht einfacher und wirksamer“ hat die BaFin laut Kick jüngst einen Vorschlag gemacht, der dahingeht, drei Produktkategorien zu schaffen: „Produkte, die ein nachhaltiges Ziel verfolgen; Produkte, die die Transition unterstützen; sowie Produkte, die auf Ausschlüssen basieren. Aus unserer Sicht ist es erfreulich, dass der regulatorische Trend aktuell hin zu mehr Einfachheit und einer höheren Effektivität geht“, sagt der Nachhaltigkeitsexperte.

Nach Aussage von Fonds Finanz-Geschäftsführerin Christine Schönteich steigt bei der nachhaltigen Vorsorgeberatung zwar der Beratungsaufwand. „Mit den geeigneten Tools muss der Beratungs- und Antragsprozess aber nicht komplex sein“, sagt Schönteich. Hierfür nutzt der Maklerpool die Vergleichsrechner von Softfair. Darüber könne eine digitale Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen des Kunden unkompliziert in die Beratung, die Tarifauswahl und letztlich auch in die Dokumentation übernommen werden.

Laut Schönteich und Neder sind die Versicherungsgesellschaften inzwischen gut aufgestellt und bieten ein umfassendes Angebot für eine nachhaltige Beratung. „Gerade im Bereich der Fondspolicen findet sich inzwischen in nahezu jeder Fondsauswahlliste eine gute Anzahl an zertifizierten „grünen“ Fonds und ETFs. Vereinzelt gibt es außerdem Produkte, die über das Angebot von Fonds hinausgehen und interessante Direktinvestments in regenerative Energien, Infrastruktur und nachhaltige Immobilien ermöglichen“, sagt Schönteich.

Nachholbedarf im Sach und Kranken

Nachholbedarf gibt es aus Sicht der beiden Vertriebsexperten hingegen im Sachbereich: Zwar hätten Versicherer dort bereits erste Schritte in Richtung nachhaltiger Angebote unternommen und einige sogar Produkte auf den Markt gebracht: „Jedoch sind diese Angebote häufig noch wenig bekannt. Besonders bei speziellen und komplexen Versicherungslösungen mangelt es an klar definierten, einheitlichen Standards sowie an ausreichenden nachhaltigen Anlagestrategien“, bemängelt die Vertriebsexpertin Schönteich. Absatzhemmend seien zudem teilweise höhere Versicherungsprämien. Auch die mangelnde Transparenz und Bekanntheit bremsen die Verbraucher aus, informierte Entscheidungen zu treffen. Und wie sieht es in der PKV aus? „Grüne Produkte spielen im Angebot der PKV-Anbieter momentan noch keine wirkliche Rolle“, sagt Schönteich. „Hier sind uns bis dato keine echten innovativen Nachhaltigkeitsansätze bekannt“, bestätigt Vema-Vorstand Neder.

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