ESG-Kriterien in der Praxis: Nachhaltig oder nicht?

EU-Flaggen vor der Europäischen Kommission
Foto: Bildagentur PantherMedia / paulgrecaud
EU-Flaggen vor dem Gebäude der EU-Kommission in Brüssel. Dort werden die vielen ESG-Vorschriften gemacht.

Im August 2022 trat für Teile des Finanzvertriebs erstmals die Verpflichtung in Kraft, die Nachhaltigkeitspräferenzen der Kundschaft abzufragen und mit den Eigenschaften der Produkte abzugleichen. Zeit für eine Bestandsaufnahme nach einem Jahr ESG-Abfrage.

Nanu? Was ist denn das für ein merkwürdiger Satz? „Dieses Finanzprodukt bewirbt ökologische und/oder soziale Merkmale, ohne jedoch nachhaltige Investitionen zu tätigen“, steht da. Will hier jemand etwa die Anleger hinter die Fichte führen und täuscht in seiner Werbung nur Nachhaltigkeit vor, die es gar nicht gibt? Greenwashing gar? Das wäre ja ein starkes Stück!

Doch weit gefehlt. Es handelt sich nicht etwa um die Feststellung eines Kritikers, der irreführende Werbung anprangert. Vielmehr ist es die Behauptung eines Fonds über sich selbst. Der Satz ist ein Zitat aus dem Emissionsprospekt eines Immobilienfonds, der nach Artikel 8 der EU-Offenlegungsverordnung klassifiziert ist. Er findet sich bei einer Stichprobe so oder ähnlich auch in den Prospekten anderer Artikel-8-Fonds – nicht nur bei alternativen Investmentfonds (AIFs), sondern auch bei Aktien- und Wertpapierfonds.

Die etwas verquere Aussage hat ihren Ursprung in einer Untervorschrift zur Offenlegungsverordnung, in der die notwendigen Nachhaltigkeitsangaben im Prospekt inklusive Layout haarklein vorgeschrieben sind. Der Satz muss demnach angekreuzt werden – sofern er zutrifft. Gemeint ist damit, dass der Fonds ökologische oder soziale Merkmale berücksichtigt, aber Nachhaltigkeit nicht als zentrales Investitionsziel verfolgt.

Artikel 9 hat die höchsten Anforderungen

Um das zu verstehen, ist es notwendig, etwas auszuholen. Ausgangspunkt ist das Ziel der EU, Kapital in nachhaltige Investitionen und Unternehmen zu lenken und nicht-nachhaltige Aktivitäten zu erschweren. Zentrales Ziel ist der Kampf gegen den Klimawandel (aber nicht nur das). So sind die Anbieter von Finanzprodukten nach der EU-Offenlegungsverordnung, die seit März 2021 sukzessive in Kraft getreten ist, verpflichtet, (unter anderem) in ihren Emissionsprospekten Angaben zur Nachhaltigkeit zu machen. Dabei stehen den Produkten drei Stufen zur Verfügung (wobei sie nicht so bezeichnet werden müssen): Artikel 6, Artikel 8 oder Artikel 9 der Offenlegungsverordnung.

Artikel 9 hat die höchsten Anforderungen und setzt nachhaltige Investitionen als zentrales Ziel des Fonds voraus. Für Artikel 8 reicht es aus, dass nachhaltige Aspekte berücksichtigt werden. In beiden Fällen ist zudem Voraussetzung, dass der Fonds die verbleibenden Nachhaltigkeits-Ziele der EU, die er nicht explizit verfolgt, zumindest nicht wesentlich beeinträchtigt. Unter Artikel 6 fallen alle anderen Fonds.

Die konkreten Maßstäbe für ökologische Nachhaltigkeit wiederum sind in der EU-Taxonomieverordnung und umfangreichen technischen Regulierungsstandards (RTS) festgehalten. Außerdem geht es neben dem Klimaschutz noch um weitere Aspekte der Umwelt (Environment) sowie um soziale Ziele (Social) und Unternehmensführung (Governance), zusammen kurz ESG.

Bürokratieberg und regulatorisches Durcheinander

Ob es notwendig oder sinnvoll ist, eine globale Menschheitsaufgabe, also die Abwendung oder zumindest Abmilderung der Klimakrise, mit den hauptsächlich europäisch geprägten Werten und Wunschvorstellungen in den Bereichen S und G sowie mit den weiteren Umweltzielen zu vermengen, würde hier zu weit vom Thema wegführen.

Jedenfalls ist auf diese Weise ein riesiger Bürokratieberg und ein ziemliches regulatorisches Durcheinander entstanden. Die Kapitulation selbst der BaFin vor der „dynamischen regulatorischen Lage“ ist legendär. So sind Anfang 2022 die ersten beiden von sechs Umweltzielen der Taxonomie in Kraft getreten: Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel. Anfang 2023 folgten die weiteren vier Umweltziele: Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung von Umweltverschmutzung, Schutz der Wasser- und Meeresressourcen sowie Schutz der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme.

Diese Punkte sind ohne Frage erstrebenswert und wichtig, aber sie verkomplizieren die Angelegenheit enorm, zumal zunächst die Detailvorschriften für die vier weiteren Umweltziele fehlten. Erst im Juni 2023 veröffentlichte die EU-Kommission in Brüssel die betreffenden RTS in Form einer delegierten Verordnung, die Anfang 2024 in Kraft tritt, also ein Jahr nach der eigentlichen Vorschrift.

Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen

Trotzdem müssen die Anbieter von Artikel-8- oder Artikel-9-Fonds auch diese Ziele schon berücksichtigen – zumindest insofern, als sie nicht wesentlich beeinträchtigt werden. Auch zu den Zielen bei den Stichworten Social und Governance gibt es noch keine Detailvorschriften. Dennoch müssen die Unternehmen auch diese im Blick behalten und im Zweifel erst einmal selber Regeln aufstellen.

Das ist auch für die Anbieter von Artikel-6-Fonds eine Herausforderung, auch wenn sie sich in ihren Prospekten mit einem einfachen Satz leicht aus der Affäre ziehen können, der ebenfalls in den EU-Vorschriften enthalten ist: „Die diesem Finanzprodukt zugrunde liegenden Investitionen berücksichtigen nicht die EU-Kriterien für ökologisch nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten“. Fertig. Aber gegenüber dem Vertrieb ist das nicht so einfach möglich beziehungsweise nicht unbedingt angeraten, es dabei zu belassen.

Denn in der Finanzberatung müssen neuerdings die Nachhaltigkeitspräferenzen der Kunden abgefragt und mit den Merkmalen der Produkte abgeglichen werden, sofern der Kunde nicht darauf verzichtet. Wenn Kundenpräferenzen und Produktmerkmale nicht zusammenpassen, darf der Berater den Fonds nicht vermitteln, er fliegt also aus der Angebots­palette. Für Banken und Wertpapierinstitute gilt das bereits seit August 2022, für Finanzdienstleister mit Erlaubnis nach Paragraf 34f Gewerbeordnung sowie Honorarberater seit April 2023.

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Lesen Sie hier, wie es weitergeht.

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