Europa-Aktien: Wo 2022 Chancen bietet

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Die robuste Nachfrage könnte den Aktien der Eurozone auch 2022 weiterhin Auftrieb verleihen, aber die Risiken werden im Jahresverlauf zunehmen.

Die Nachfrage in Europa wird Anfang des neuen Jahres hoch sein. Die Unternehmensgewinne sind in die Höhe geschossen und es kommt zu einer Investitionswelle, da Unternehmen ihre Lieferketten neu aufstellen und auf nachhaltige Technologien umsteigen.

Am Horizont ziehen jedoch dunkle Wolken auf. Es besteht die Aussicht auf eine höhere Inflation, höhere Zinsen und möglicherweise eine ganz andere Investmentlandschaft, insbesondere gegen Jahresende.

Die Erholung dürfte vorerst anhalten

Europa verzeichnet seit einigen Wochen steigende Covid-19-Infektionszahlen, sodass in einigen Ländern wieder Beschränkungen eingeführt wurden. Längere Lockdowns – wie zu Beginn der Pandemie – erscheinen jedoch unwahrscheinlich. Die Impfquoten in den europäischen Industrieländern sind hoch, mit den Auffrischimpfungen wurde bereits begonnen und es besteht die Aussicht auf Covid-19-Behandlungen in Tablettenform.

Neue Varianten sind ein zusätzliches Problem. Bislang haben wir nicht festgestellt, dass die steigenden Infektionen weitreichende Störungen verursachen oder der Erholung Einhalt gebieten. Für 2021 wird ein Anstieg der Unternehmensgewinne in der Eurozone um etwa 50 % gegenüber dem Vorjahr prognostiziert, und für 2022 wird ein Wachstum von 8 bis 9 % erwartet.

Die Nachfrage war bisher so robust, dass viele Unternehmen die Preise anheben konnten, um die steigenden Kosten auszugleichen. Wir sehen einige Anzeichen dafür, dass der Kostendruck in bestimmten Bereichen seinen Höhepunkt bereits erreicht hat – beispielsweise bei bestimmten Metallen.

Unternehmen, die diese steigenden Kosten weitergeben konnten, könnten bei nachlassendem Kostendruck 2022 sehr gute Gewinnmargen verzeichnen.

Verfestigen sich die Inflationserwartungen?

Aber auch wenn einige Investitionskosten möglicherweise ihren Höchststand erreichen haben, gibt es Gründe dafür, warum die Inflation dennoch nicht sinkt.

Lieferketten werden aufgrund der Pandemie und geopolitischen Bedenken neu gestaltet. Unternehmen und Länder wollen die Versorgungssicherheit für die Zukunft gewährleisten. Diese Neugestaltung wird jedoch zu höheren Kosten führen, da Unternehmen nach Lieferanten suchen, die geografisch näher liegen, aber möglicherweise weniger effizient produzieren.

Auch steigende CO2-Preise erhöhen die Kosten: Der CO2-Preis der EU hat sich 2021 verdoppelt. Dies ist ein notwendiger Schritt der Entwicklung weg von umweltschädlichen Brennstoffen und um Anreize für umweltfreundlichere Produktionsmethoden zu schaffen. Aber er drückt die Inflation weiter nach oben.

Viele Branchen sind mit einem Arbeitskräftemangel konfrontiert, der die Löhne in die Höhe treiben kann. Die Energiepreise sind bereits stark gestiegen und Arbeitnehmer streben möglicherweise höhere Gehälter an, um die zunehmenden Lebenshaltungskosten auszugleichen.

Es besteht das Risiko, dass all diese höheren Kosten dazu beitragen, dass sich die Erwartungen einer höheren Inflation immer mehr verfestigen. Eine moderate Inflation ist im Allgemeinen gut für Aktien, da sie in der Regel mit einem positiven Wirtschaftswachstum und steigenden Gewinnen einhergeht. Wenn die Kosten jedoch schneller steigen als die Einnahmen, werden die Gewinnmargen gedrückt.

Wie reagieren die Zentralbanken?

Die Zentralbanken müssen einen schmalen Grat beschreiten, um die Inflation unter Kontrolle zu halten und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Kosten für die Schuldenaufnahme nicht zu stark ansteigen, zumal die Staatsverschuldung sehr hoch ist. Dies gilt vor allem für Länder wie Italien.

Als Reaktion auf die höhere Inflation hat die US-Notenbank Fed bereits angekündigt, ihre Anleihenkäufe zur Stützung der Wirtschaft während der Pandemie zurückzufahren. Die Frage ist, wann höhere Zinsen folgen.

Es wird erwartet, dass die Europäische Zentralbank ihre Pandemiehilfen Anfang 2022 beendet. Zinserhöhungen liegen noch in einiger Ferne. Allerdings haben einige kleinere Zentralbanken, wie beispielsweise die norwegische, die Leitsätze bereits erhöht. Die „Zinsreise“ geht also eindeutig nach oben.

Europa ist gut aufgestellt, um vom Trend zur Umlagerung von Lieferketten zu profitieren. Insbesondere der Investitionsgütersektor – Hersteller von Maschinen, Werkzeugen und sonstigen im Produktionsprozess verwendeten Anlagen – könnte ein großer Nutznießer sein.

Dann sind da die Technologieführer. Hier sind insbesondere die europäischen Halbleiterausrüster interessant, die angesichts der Digitalisierung und dem Kapazitätsausbau der Chiphersteller eine steigende Nachfrage verzeichnen.

Finanzwerte und insbesondere Bankaktien entwickeln sich in der Regel gut, wenn Inflation und Zinsen steigen, da sie Kredite neu bewerten können. Verbraucherorientierte Aktien könnten jedoch in eine schwierige Lage geraten, wenn Lohnerhöhungen die höhere Inflation nicht ausgleichen können.

„Grüne“ Ausgaben können europäische Unternehmen vorantreiben

In Europa ist die finanzpolitische Unterstützung weiterhin hoch. Der langfristige EU-Haushalt und die Ausgaben für die „EU der nächsten Generation“ decken den Zeitraum 2021 bis 2027 ab. Ein Großteil dieser Ausgaben wird in Projekte fließen, die den Klimawandel verhindern oder eindämmen sollen. 

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Potenzial sehen wir in Industrieunternehmen, für die grüne Energie eine Wachstumschance darstellt. Unternehmen, die in Nischen wie Verfahrenstechnik oder Wärmeübertragung und -trennung tätig sind, können in neue Segmente wie die Produktion von grünem Wasserstoff expandieren.

Ganz allgemein gibt es in Europa viele Unternehmen, die Marktführer bei nachhaltigen Technologien wie erneuerbaren Kraftstoffen, Elektroautos oder Metallrecycling sind. Diese Unternehmen könnten von einem stärkeren Fokus auf Nachhaltigkeits- und Klimafragen weltweit, nicht nur in Europa, profitieren.

Es ist jedoch keineswegs der Fall, dass sich jedes Unternehmen im „grünen“ Raum als gute Investition erweisen wird. Die Gewinnmargen von Unternehmen wie Windturbinenhersteller wurden durch schlechte Auftragsausführung und höhere Rohstoffkosten stark beeinträchtigt. Anleger werden auf Einzeltitelebene weiterhin sehr selektiv vorgehen müssen.

Das „Zeitalter der Innovation“ geht über klimabezogene Investitionen hinaus. In Europa sind auch marktführende Unternehmen in Branchen wie den Biowissenschaften ansässig, die enorme Investitionen verzeichnen und spannende neue Produkte einführen.

Risiken können in der zweiten Jahreshälfte zunehmen

Wir gehen davon aus, dass die derzeitige starke Dynamik bei Aktien Anfang 2022 anhalten wird. Weitere Fusionen und Übernahmen könnten zusätzlichen Auftrieb verleihen, da Unternehmen ihre letzte Chance für billiges Geld nutzen.

Allerdings könnten sich die Risiken durch Inflation und Maßnahmen der Zentralbank (oder unterlassenen Maßnahmen) im Verlauf des Jahres 2022 erhöhen. Auch bei den Quartalsgewinnen werden die Unternehmen mit härteren Vorjahresvergleichen konfrontiert sein.

Wir müssen uns auch der Tatsache bewusst sein, dass Europa nicht in einem luftleeren Raum existiert. Ereignisse in anderen Volkswirtschaften – insbesondere in China – werden sich auch auf die Aktienmarktrenditen in Europa auswirken. Chinas Wirtschaft hat sich verlangsamt, und auch wenn Konjunkturmaßnahmen kommen, so wird es doch einige Zeit dauern, bis sie zum Tragen kommen.

Wir verweisen auch auf geopolitische Risiken. Die Spannungen zwischen den USA und China könnten wieder aufflammen. Risiken gibt es aber auch in Europa, wie die Migrantenkrise an der weißrussisch-polnischen Grenze zeigt. Auch die französische Präsidentschaftswahl im April wird von den Anlegern aufmerksam verfolgt. Die Aktienmärkte befinden sich im Allgemeinen auf einem erhöhten Niveau, sodass ein geopolitischer Schock leicht zu einem Rückschlag führen könnte.

Dennoch ist Europa möglicherweise besser aufgestellt als einige andere Regionen, um ein schwierigeres Jahr zu überstehen. Europa weist bereits eine relativ hohe Fixkostenbasis auf. Regionen mit variablen Kosten werden die höheren Kosten dagegen stärker zu spüren bekommen. Auch die europäischen Banken sind für ein schwierigeres wirtschaftliches Umfeld gut aufgestellt.

Die Aktien der Eurozone haben sich seit den Tiefstständen der Pandemie im Frühjahr 2020 sehr gut entwickelt. Der MSCI EMU Index der Region wird gegenüber den globalen Märkten ex USA mit einem wachsenden Aufschlag gehandelt (wie die blaue Linie in der folgenden Abbildung zeigt). Gegenüber den USA haben sich die Bewertungen der Eurozone dagegen nicht angenähert (gelbe Linie). Es könnte sein, dass Europa aus einem schwierigeren Jahr 2022 als relativer Gewinner hervorgeht.

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Autor Martin Skanberg ist Fondsmanager für europäische Aktien bei Schroders.

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