„Sollte der Prozess aber aufgrund zu schlechter Ergebnisse der traditionellen Parteien abgeschafft werden, dann könnten die Chancen von Kompromisskandidaten für die EZB-Präsidentschaft, wie die finnischen Politiker Olli Rehn oder Erkki Liikanen steigen.“
Der Einfluss der Europawahl auf die Politik in wichtigen Mitgliedsländern
Womöglich noch wichtiger dürfte die anstehende Wahl für die nationale Politik in verschiedenen großen EU-Ländern sein. Auswirkungen erwartet Menut insbesondere auf Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien.
In Deutschland werde die Wahl vor allem durch die Brille des Übergangs von der Ära Merkel in ein neues politisches Zeitalter betrachtet. „Sie könnte daher den Abgang von Merkel und das Ende der großen Koalition beschleunigen“, so die Ökonomin. Sollte etwa die SPD starke Verluste verzeichnen, steige der Druck auf die Partei, die Koalition noch im Jahr 2019 zu beenden. „Unser Basisszenario ist, dass die Koalition zumindest bis Ende 2019 fortgesetzt wird“, so Menut. „Doch wir schließen kurzfristige Neuwahlen im Jahr 2020 nicht aus.“
Beschleunigt oder bremst die Europawahl Macron aus?
In Frankreich könnte das Ergebnis der Europawahl das künftige Reformtempo von Präsident Macron beeinflussen. Umfragen zufolge liegen Emmanuel Macrons Bewegung En Marche und die Nationale Sammlungsbewegung von Marine Le Pen mit jeweils 22 Prozent etwa gleichauf. „Für den durch die Gelbwesten-Proteste geschwächten Macron wäre ein Sieg wichtig, um wieder positives Momentum zu erzeugen und einen guten Start in die zweite Hälfte seiner Amtszeit hinzulegen“, erklärt Menut.
In Italien könnte die Europawahl das Machtgefüge in der Regierungskoalition aus der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega Nord beeinflussen und möglicherweise zu einem Regierungswechsel führen. Aktuell legen Umfragen nahe, dass Matteo Salvinis Lega Nord mit fast 31 Prozent deutlich vor der Fünf-Sterne-Bewegung einlaufen könnte, die auf 23 Prozent taxiert wird.
Und wie geht’s weiter mit dem Brexit?
„Wir glauben weiterhin, dass Salvini kaum ein Interesse daran haben dürfte, die Regierung über den Haufen zu werfen, insbesondere weil er Wert darauf legen dürfte, nicht alleine für die schwierigen Verhandlungen über den Haushalt für 2020 verantwortlich zu sein. Die Lega Nord könnte allerdings dennoch auf interne Veränderungen in der Regierung drängen“, sagt Menut.
In Großbritannien schließlich dürfte die Lage angesichts der Unsicherheit rund um den Brexit auch nach der Europawahl unübersichtlich bleiben. Umfragen legen ein starkes Debüt der neuen Brexit-Party und einen gleichzeitigen Absturz der im Jahr 2014 noch starken UK Independence Party (UKIP) nahe. Zugleich könnten auch europafreundliche Parteien einige Sitze gewinnen.
„Die wichtigste Entwicklung dürfte jedoch der signifikante Verlust an Unterstützung für die regierenden Konservativen sein, was den Druck auf Premierministerin May zurückzutreten erhöhen dürfte“, sagt Menut. „Wir halten dies für die kommenden Monate für durchaus wahrscheinlich – und damit steigen die Chancen auf Neuwahlen.“
Letztlich zeigten die Umfragen in Großbritannien jedoch auch, dass sich die Wählerschaft relativ gleichmäßig auf Befürworter eines harten Brexit, kompromissbereite Brexit-Befürworter und „Remainers“ verteile. „Das spiegelt deutlich die politische Sackgasse wider, in der sich das Land derzeit befindet“, so Menut abschließend.
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