Frau Griebel, Sie hatten im Rahmen einer Studie digitale Trends und einen Supertrend identifiziert, die entscheidend für die künftige Wettbewerbsfähigkeit der Assekuranz sein dürften. Wo stehen Unternehmen auf ihrem Weg der digitalen Transformation?
Griebel: Die Versicherungsbranche steht derzeit an einem entscheidenden Punkt ihrer digitalen Transformation. Der demografische Wandel hat bereits zu erheblichen Veränderungen geführt: Die sogenannten Challenger-Insurtechs haben mit ihren schlanken digitalen Plattformen und innovativen Datenanalysen die Messlatte für das Kundenerlebnis deutlich höher gelegt. Dadurch gewinnen sie die Aufmerksamkeit der digital versierten Generation Z, die an nahtlose Online-Erfahrungen gewöhnt ist. Aktuell konzentrieren sich daher sowohl Marktführer als auch Nischenanbieter immer stärker auf eine kundenzentrierte digitale Strategie – mit neuen Omnichannel-Ansätzen, die Online-, Mobil- und Offline-Kanäle nahtlos integrieren sowie der Implementierung vollautomatisierter Schadensabwicklungen mithilfe von KI und ML.
Auch das Angebot in andere Dienstleistungen „eingebetteter“ Versicherungen wird zunehmen, da dies Kunden einen noch einfacheren Zugang zu Versicherungsprodukten bietet und die Marktdurchdringung für Anbieter erhöht. KI-Modelle werden die Risikobewertung weiter verbessern, sodass Versicherer ihre Risiken präziser einschätzen und eine bessere Preisgestaltung vornehmen können. KI-basierte Lösungen versprechen auch eine höhere Rentabilität bei der Betrugsprävention, da sich Betrugsmuster frühzeitiger erkennen und verhindern lassen. Obwohl die Versicherungsbranche Veränderungen traditionell zwar eher konservativ gegenübersteht, auch wegen der hochkomplexen Anforderungen im Versicherungsumfeld, wird die Branche in den kommenden Jahren zwar langsame, aber kontinuierliche Fortschritte in der Digitalisierung machen.
Sie sagen in Ihrer Studie, dass sich die Spreu vom Weizen trennen wird. Lässt sich absehen, wie viele Gesellschaften den Sprung in die digitale Zukunft nicht schaffen?
Griebel: Es werden sicherlich nicht alle Versicherungsunternehmen den Sprung in die digitale Zukunft schaffen. Unternehmen, die in digitale Lösungen investieren, ihre Prozesse optimieren und personalisierte Produkte anbieten, werden sich jedoch auch in Zukunft behaupten können. Traditionelle Unternehmen sind in Bezug auf digitale Reife aber nicht automatisch schlechter gestellt als die sogenannten Neoversicherer. Insurance-Startups spielen ihre Stärken vor allem im Bereich Onlineverkauf aus, während konventionelle Versicherer die neuen digitalen Möglichkeiten besonders im Onlinemarketing, für Kundenbindungsprogramme oder im Bereich Cybersicherheit nutzen. Der Dreh- und Angelpunkt für die Branche wird jedoch die digitale Kundenorientierung sein, die künftig den gleichen Stellenwert haben wird wie Produkte und Dienstleistungen. Versicherungsnehmer treten in der Regel nur in begrenztem Umfang mit ihren Versicherungsanbietern in Kontakt, oft nur dann, wenn sie einen Anspruch geltend machen oder sich über ihre Police informieren wollen. Das bedeutet, dass bereits eine einzige negative Erfahrung einen bitteren Beigeschmack hinterlassen und sie dazu bringen kann, einen anderen Anbieter zu wählen. Die Zukunftsaufgabe für Versicherer liegt deshalb darin, häufigere, automatisierte und nahtlose Interaktionen über alle Kanäle hinweg – einschließlich Online, Agentur, Mobiltelefon und Nicht-Versicherungsvertriebe – zu schaffen.
Ist es eine Frage des Mindsets oder eine Frage fehlender finanzieller Ressourcen? Ich weiß aus Gesprächen mit der Branche, dass sowohl Leben- aber auch Kompositversicherer erwägen, sich aus dem Markt zurückzuziehen, weil die Investitionen für die Modernisierung der digitalen Infrastruktur schlicht zu hoch sind.
Griebel: Versicherer in der DACH-Region stehen derzeit vor drei großen Herausforderungen, die jeweils spezifische Investitionen erfordern. Erstens, die Legacy-Architektur: Historisch gewachsene Legacy-IT-Umgebungen erfordern enorme Investitionen und langwierige Transformationsprojekte, um sie zu modernisieren. Versicherer müssen daher jetzt handeln, um sicherzustellen, dass sie in naher Zukunft wettbewerbsfähig bleiben.
Zweitens, der demografische Wandel: Die Branche steht vor einem erheblichen Risiko durch das Aussterben der Babyboomer-Generation. Diese Generation nimmt Wissen und Erfahrung zu alten Systemen und Versicherungs-Know-how mit. Darüber hinaus stehen nicht genügend qualifizierte Nachwuchskräfte bereit, um in Versicherungsunternehmen zu arbeiten, die traditionell veraltete IT-Umgebungen, wie Mainframes, einsetzen. Drittens, die steigenden regulatorischen Anforderungen: Die notwendige Einhaltung erweiterter regulatorischer Anforderungen, wie etwa DORA, innerhalb eines begrenzten Zeitraums von weniger als zehn Monaten setzt die Unternehmen in allen betroffenen Bereichen unter enormen Druck.
Welche Bedeutung spielen künftig maßgeschneiderte Versicherungstarife, On-Demand-Versicherungen oder Ökosysteme? Deren Bedeutung wird immer wieder betont, einen Durchbruch im Markt sieht man derzeit allerdings noch nicht? Woran hapert es derzeit?
Griebel: Obwohl Technologieunternehmen und Versicherer Lösungen für eine nahtlose Integration gefunden haben wie die Telematik in der Kfz-Versicherung, sind Verbraucher nur dann bereit, diese Policen zu nutzen, wenn sie eine günstigere Prämie erhalten. Personalisierte Policen könnten dadurch zu einigen unbeabsichtigten Folgen, Vorurteilen und Kontroversen führen. Im Kern beruht die Versicherungsbranche auf dem Prinzip der kollektiven Risikoübernahme, bei dem das Risiko eines Einzelnen durch eine Gruppe von Personen abgedeckt wird, die Mittel zusammenlegen, um diejenigen in der Gruppe – möglicherweise auch sich selbst – zu versichern, die im Schadensfall finanzielle Unterstützung benötigen. Wenn digitale Entwicklungen wie die Telematik ein gerechteres, stärker auf den Einzelnen zugeschnittenes Preismodell für die Versicherung schaffen, könnte dies möglicherweise weder für die Gemeinschaft noch für den Versicherer selbst von Vorteil sein.
Wo bleibt bei den skizzierten Entwicklungen der Vertrieb, welche Rolle spielt künftig die Vermittlerin, der Vermittler?
Griebel: Der Vertrieb wird auch weiterhin eine wichtige Schnittstelle zwischen Versicherungsunternehmen und Kunden bleiben, allerdings wird sich der Aufgabenbereich durch die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung deutlich verändern. Bisherige Routineaufgaben, wie die automatisierte Angebotserstellung, die Kundenkommunikation und die Analyse von Kundendaten für eine bedarfsgerechte Produktplatzierung, werden künftig von KI-basierten Systemen etwa via Chatbots übernommen. Dadurch können sich Vermittler stärker auf die direkte Beratung ihrer Kunden und den Aufbau persönlicher Beziehungen konzentrieren. Sie werden künftig vor allem als Problemlöser und Berater agieren, die individuelle Bedürfnisse analysieren und maßgeschneiderte Versicherungslösungen entwickeln. Die menschliche Komponente des Vertriebs wird also auch in einer digitalen Zukunft wichtig bleiben, aber angepasst an die neuen technologischen und vor allem kundenorientierten Anforderungen.