Exklusiv-Interview mit Deniz Aytekin: „Entscheidungen muss man auf Augenhöhe vermitteln“

Schiedsrichter müssen sich bei einer Fehlentscheidung ja häufig vor der ganzen Republik rechtfertigen. Was macht das mit Ihnen?

Aytekin: In erster Linie ärgert man sich, weil man immer sein Bestes geben und möglichst fehlerfrei agieren will. Aber in unserem Job gehören Fehler leider ein Stück weit dazu. Die Kunst besteht darin, die Fehler dann zu machen, wenn es niemanden interessiert. Wenn aber Fehler passieren, die eine Relevanz fürs Spielergebnis haben, wird es für einen Schiedsrichter schwierig und im Nachgang auch ungemütlich. Man muss dann sehr selbstkritisch mit seinem Fehler umgehen, ihn analysieren und dann am besten nicht nochmal machen. Ich persönlich habe kein Problem damit, offen zu einem Fehler zu stehen und die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Wie wichtig ist Teamwork in einem Schiedsrichtergespann? Muss man eine verschworene Einheit sein, um gut zu funktionieren?

Aytekin: Großartige Leistungen erbringt man im Team, das sind selten Einzelleistungen. Auch auf dem Fußballfeld sind wir mit zwei Schiedsrichterassistenten und Videoassistenten mittlerweile große Teams. Ein Spiel ist für uns ein Projekt, und im Idealfall schaffen wir es, dieses Projekt sauber über die Bühne zu bringen. Jeder leistet seinen Beitrag zum Gelingen dieses Projekts. Als Schiedsrichter – oder auch als Führungskraft in der Wirtschaft – muss man klar definieren, was man von den einzelnen Teammitgliedern erwartet. Wenn man möchte, dass sie mutig sind und Verantwortung übernehmen, muss man ihnen psychologische Sicherheit geben und eine gesunde Fehlerkultur etablieren. Aber wenn wir im Team einen Fehler machen und ich mich danach öffentlich hinstelle und sage, dass nur mein Assistent für den Fehler verantwortlich ist, wird er sich hüten, mir im umgekehrten Fall zu helfen.

Steckt eine Fußballmannschaft in der Krise, ist häufig in der Presse zu lesen, im Team sei die Stimmung schlecht, es werde nicht mehr miteinander geredet. Wie lange brauchen Sie auf dem Platz, um festzustellen, ob eine Mannschaft in guter oder schlechter mentaler Verfassung ist?

Aytekin: Man merkt dort relativ schnell, ob eine Mannschaft wirklich ein Team ist oder ob jeder Spieler sein eigenes Ding macht. Es gibt Mannschaften, die kassieren ein Tor, und danach verändert sich die Körpersprache der Spieler massiv. Dann kann man sehen, ob eine Mannschaft dazu in der Lage ist, wieder ins Spiel zurückzufinden oder nicht. Die mental starken Teams erkennt man daran, dass sie in der Lage sind, weiterzumachen und eine gewisse Körperspannung zu bewahren, wenn das Spiel mal gegen sie läuft. Dafür braucht es Führungsspieler, die es schaffen, eine Mannschaft wieder „anzuzünden“. Auch in der Wirtschaft ist es eminent wichtig, dass sich Menschen mit Führungsverantwortung ihrer äußeren Wirkung bewusst sind. Wenn selbst die Führungskraft nicht mehr daran glaubt, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wie sollen dann die Teammitglieder daran glauben?

Müssen Sie auf dem Platz in erster Linie Richter sein oder gibt es auch Situationen, in denen Sie als Mediator gefragt sind?

Aytekin: Wenn ich bei einer Entscheidung keinen Spielraum habe, bin ich derjenige, der den Regeln Geltung verschaffen muss. Wenn ein Foul klar Rot ist, kann ich nicht sagen: Die Karte gebe ich nicht, ich habe meine eigenen Regeln. Das geht nicht. Wenn ich aber Spielraum habe, kann ich die Regeln in dieser Grauzone mit Sinn und Verstand anwenden, da kommt dann auch Mediation in Frage. Als Schiedsrichter ist man in ganz vielen Rollen: Entscheider, Kommunikator, Psychologe, man ist eigentlich alles.

Können Sie eigentlich Fußballspiele im Fernsehen gucken, ohne aus der Perspektive des Schiedsrichters auf das Spiel zu blicken?

Aytekin: Ja, das geht schon, zum Beispiel wenn ich privat ein Länderspiel schaue. Natürlich gucke ich immer auch ein bisschen aus der Rolle des Schiedsrichters auf die Partie. Aber wenn die Nationalmannschaft spielt, bin ich auch ein ganz normaler Fan.

Das Gespräch führte Kim Brodtmann, Cash.

Deniz Aytekin wurde 2019, 2022 und 2024 zum DFBSchiedsrichter des Jahres gewählt. Er ist Mitgründer und Aufsichtsratschef der Plattform anwalt.de sowie Gründer und Geschäftsführer des Online-Marktplatzes fitnessmarkt.de. (www.denizaytekin.de)

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