Thema Zinsanstieg: Das schlägt ja bei einigen in die Bücher, gerade bei der Lebensversicherung. Wird das langfristig ein Problem werden?
Eurich: Der Zinsanstieg ist sehr schnell gekommen. Und es wäre besser gewesen, er wäre nicht ganz so abrupt und in dem Ausmaß gewesen. Natürlich ist das, mit Blick auf die Personenversicherungen, langfristig gesehen sehr hilfreich. Das Niedrigzinsniveau hat uns ja über Jahre zu schaffen gemacht. Wir mussten Zusatzreserven bilden und die Überschussbeteiligungen branchenweit senken. Jetzt haben wir in der Perspektive wieder eine bessere Situation. Allerdings sind die Anlagen der Versicherer langfristig investiert. Insofern können wir jetzt nicht unsere Portfolien komplett umschichten. Gut wäre, wenn das Zinsniveau nicht noch weitere große Sprünge nach oben macht. Das wird ein Stück weit davon abhängen, wie sich die Inflation entwickelt. Und man wird sehen, wie die EZB reagiert. Was aber auf keinen Fall passieren darf – und punktuell zeichnet sich das im Moment schon ab – ist, dass wir in eine Lohn-Preis-Spirale geraten. Wenn ich mir die momentanen Lohnforderungen anschaue, werden die ein Stück weit durch diesen Mechanismus befeuert. Deshalb wäre es gut, wenn die Situation nicht weiter angeheizt wird und das Inflationsniveau dann auch wieder absinkt.
Durch die Fusion machen Sie als Versicherungsverein einen deutlichen Schritt nach vorn. Was erwarten Sie?
Schoeller: Unsere Analysen zeigen, dass wir gemeinsam auf den zehnten Rang in der deutschen Assekuranz vorrücken werden. Das sind aus der Marktposition der Gothaer vier Plätze nach vorn. Unter den Versicherungsvereinen werden wir gemessen an den Prämieneinnahmen der drittgrößte Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit und in jedem einzelnen Segment – Leben, Kranken und Sach – unter den Top 3 VVaGs liegen. Bei den Beitragseinnahmen werden wir 2023 gemeinsam voraussichtlich über der Acht-Milliarden-Euro-Grenze liegen. Wir machen also in der Tat einen deutlichen Sprung nach vorne. Aber auch in den einzelnen Segmenten erhöhen wir unsere Marktkraft mit dem Zusammenschluss durch die veränderten Größenverhältnisse.
Eurich: Der gebündelte Vertrieb hat dann noch einmal deutlich mehr Power. Die Barmenia und die Gothaer haben beide große Ausschließlichkeitsorganisationen. Das ist ein wichtiges Asset, weil wir die gemeinsame Vertriebskapazität dann auch für das gesamte Versicherungsspektrum nutzen können.
Wir haben schon einige Fusionen gesehen: Die Generali mit der Volksfürsorgedie Viktoria und die Hamburg-Mannheimer und Ergo. Und nie lief das geräuschlos ab. Sie haben mehr als 6.000 Mitarbeiter zusammen in Köln und Wuppertal. Wo sehen Sie beim Zusammengehen die Herausforderungen?
Eurich: Ein Großteil der Herausforderungen sind die Menschen. Daher haben wir das ganz klar im Fokus. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass es für so einen Prozess nicht förderlich ist, die unterschiedlichen Kulturen der Häuser zu erhalten. Wir haben eine gute Basis, weil die Kulturen der Barmenia und Gothaer sehr nah beieinander sind. Was wir erreichen müssen ist, dass möglichst schnell nicht mehr über die in Köln oder die in Wuppertal geredet wird, sondern über uns gemeinsam.
Schoeller: Was wir unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und auch dem Vertrieb mitgeben möchten und was wir in den ersten Gesprächen auch bereits deutlich spüren, sind zwei wesentliche Impulse: Erstens: Seid neugierig aufeinander. Im anderen Unternehmen sind viele Menschen mit vielen Stärken. Die Barmenia ist beispielsweise nicht umsonst derart wachstumsstark und in vielen Facetten eines der führenden Unternehmen in Deutschland. Lasst uns nach den Stärken des jeweils anderen suchen. Das Zweite: Die Menschen sind die treibende Kraft. Sie sind die Unternehmerinnen und Unternehmer, die es zu etwas Positivem machen. Es wird im Rahmen der Zusammenführung sicherlich auch Situationen geben, die auch mal etwas schwieriger werden. Aber in Summe ist es eine gemeinsame unternehmerische Grundidee von Menschen, und das macht den Unterschied.
Die Standorte sollen für die kommenden drei Jahre erhalten bleiben. Was passiert danach?
Eurich: Die Standorte werden wir dauerhaft erhalten. Ich glaube, das infrage zu stellen, wäre extrem unklug. Beide Hauptverwaltungen sind rappelvoll. Das ist auch durch die Wachstumsstory der letzten Jahre bedingt. Wir haben ein klares Agreement: Beide Standorte bleiben dauerhaft erhalten.
Schoeller: Die Pandemie hat die Arbeitswelt nachhaltig verändert. Bei uns arbeiten die Menschen ohnehin nur noch zwei bis drei Tage die Woche im Büro. Zudem werden wir durch die beiden Standorte als Arbeitgeber noch attraktiver: Manche Menschen werden vom sehr urbanen Umfeld in Köln angezogen, andere lieben das Bergische Land mit all seinen Möglichkeiten rund um Wuppertal. Im Kampf um die Top-Talente ist es daher ein weiterer Vorteil, wenn wir beide Optionen bieten können. Auch deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, alles nach Köln oder Wuppertal zu bündeln. Diese Frage spielt vor dem Ergebnis der Transformation der vergangenen drei Jahre keine Rolle mehr.
Es gibt Mitarbeitende, die pendeln aus Köln nach Wuppertal oder von Wuppertal nach Köln. Ist geplant, dass die Barmenianer sich künftig dann auch bei der Gothaer einloggen?
Schoeller: Wir haben Desk Sharing, so dass es keine Rolle spielt, an welchem Standort man arbeitet.
Eurich: Wer die Standorte für sich besser nutzen kann, soll das tun, klar. Richtig ist: Wir werden dadurch attraktiver. Finden die Menschen Köln als Stadt cooler, oder sind sie vielleicht bei uns besser aufgehoben? Köln ist als Wohnort nun mal teurer als Wuppertal. Auch das ist ein wichtiger Aspekt.
Schoeller: Wir werden aber schon auch den Anspruch haben, dass man sich persönlich begegnet. Dazu muss man seinen Arbeitsplatz nicht verlagern. Denn dann würden wir die Vorteile aufgeben, die die Nähe der Standorte mit sich bringt. Aber wir wollen, dass die Menschen sich sehen und die Teams regelmäßig zusammenkommen. Die Begegnung wird auch Kultur erzeugen und dazu beitragen, ein Unternehmen zu schaffen.
Eurich: Für die gemeinsame Unternehmenskultur ist die Nähe natürlich ein Vorteil. Wenn wir 500 Kilometer auseinander wären, wäre das schwierig.
Schauen wir auf die Produktentwicklung, wird die zusammengelegt?
Schoeller: Wir sind noch nicht in einem Post-Merger-Integration-Prozess. Das ist regulatorisch noch gar nicht möglich, weil das Kartellamt sehr genau darauf achtet, was wir gemeinsam diskutieren und was nicht.
Eurich: Wir haben dafür Zielbilder skizziert und müssen im weiteren Prozess schauen, wie wir uns diesen Zielbildern nähern. Aber wir haben klare Vorstellungen.
Und wie sieht es mit den Sparten aus?
Schoeller: Sie sind mental gerade in zwei Unternehmen. Wir werden ein Unternehmen bauen. „Wer bekommt was?“ ist dabei nicht die Leitfrage.
Ich beziehe mich auf ein Interview, Dr. Eurich, in dem Sie einen Lebensversicherer aus Oberursel und einen Krankenversicherer als Stuttgart als Beispiel für eine Fusion genannt.
Eurich: Wir haben einen eigenen Denkansatz. Wir wollen möglichst schnell beide Unternehmen zu einer Einheit zusammenfügen. Dann geht es nicht mehr um den Gesundheitsversicherer und den Gewerbeversicherer, sondern um das „Wir“. Das ist ein extrem wichtiger Punkt. Nur so können wir die Chancen gemeinsam wirklich schnell nutzen.
Schoeller: Wir werden gemeinsam ein starkes Unternehmen schaffen, indem wir die Stärken miteinander verbinden. Daher stellt sich erst gar nicht die Frage: Was bekommst du, was bekomme ich?
Eurich: Das Zielkonstrukt ist eine Unternehmensgruppe. Wir haben von Anfang an gesagt, es wird eine gemeinsame Finanzholding geben. Und darunter sind dann die Risikoträger verortet. Wir werden eins.
Das betrifft auch die Kapitalanlagen und deren Management?
Eurich: Derzeit überlegen wir, wie wir das ausgestalten wollen. Aber natürlich haben wir ein Zielbild dafür.
Das heißt aber auch dann die nachhaltige Ausrichtung der Kapitalanlage?
Schoeller: Eindeutig. Dies ist einer unserer gemeinsamen Kernwerte. Das Thema Nachhaltigkeit für jeden von uns bereits heute herausragender Bedeutung. Beide Unternehmen sind heute bereits außerordentlich stark im Thema Nachhaltigkeit positioniert. Das zusammenzuführen, braucht keinen mentalen Kurswechsel. Es geht hier wieder auch darum, zwei kulturelle Gemeinsamkeiten miteinander zu verzahnen und gemeinsam mehr Impact zu erreichen.