Exklusiv-Interview mit Patrick Dahmen: „Es geht um die konsequente Vernetzung sämtlicher Vertriebskanäle“

Foto: Valytics / Dr. Patrick Dahmen
Dr. Patrick Dahmen

Der ehemalige Axa- und HDI Lebensversicherungsvorstand Dr. Patrick Dahmen, der Unternehmensberater Hans-Joachim Schütt sowie der Ex-Axa-Deutschland-Manager Christoph Sindezingue wollen mit strategischer Unternehmensberatung im Versicherungssegement punkten und haben hierfür Valytics gegründet. Über die Ziele, die Beratungsschwerpunkte, die digitalen Defizite und die Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz sprach Cash mit dem Mitbegründer Patrick Dahmen.

Dr. Dahmen, Sie sprechen von Creating Value und innovating together: Was steht dahinter?

Dahmen: Das eine ist, dass wir für unsere Kunden Werte schaffen wollen, auch durch Innovationen. Gerade in einer Zeit, in der die Versicherungswirtschaft durch Digitalthemen und geopolitische Themen enormen Veränderungen ausgesetzt ist. Das zweite ist, diese Veränderungen zusammen zu gestalten. Ich glaube aufgrund meiner Berufserfahrung bei Axa und bei HDI zutiefst daran, dass es wichtig ist, dass Berater ein Gespür für das jeweilige Unternehmen entwickeln. Für das, was kulturell machbar ist und dann zusammen mit dem Unternehmen Lösungen zu entwickeln. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass Berater ins Unternehmen kommen, analytisch hochdurchdachte und stringente Lösungen liefern, die dann aber nicht in der Organisation selbst verhaftet sind. Wir wollen Wert gemeinsam mit unseren Kunden schaffen. Deshalb sagen wir: Das Zusammenspiel aus Rationalität und Empathie ist für uns wichtig.

Die großen Beratungsunternehmen mögen das Know how haben. Sie sagen, dass Sie ein besseres Verständnis haben. Verstehe ich das richtig?

Dahmen: Wir haben einen anderen Zugang. Ich bin seit 25 Jahren in der Versicherungswirtschaft. Ich weiß, was aus Unternehmenssicht machbar ist. Mein Kollege Joachim Schütt hat lange bei Zurich gearbeitet. Christoph Sindezingue war lange bei Axa. Wir wissen also um das Machbare. Der zweite Punkt ist, wir sind ausgebildete Coaches. Wir wollen nicht primär Coaching-Sitzungen anbieten, sondern den Werkzeugkasten nutzen, um gemeinsam mit den Unternehmen Themen voranzubringen. Ich glaube zutiefst, dass wir alle in der Versicherungswirtschaft kein Erkenntnisproblem haben. Wir wissen, wie die Lösungen lauten. Wir haben viel mehr das Thema, dass wir Veränderungen gemeinschaftlich in Unternehmen voranbringen müssen. Das funktioniert nur, wenn wir alle mitnehmen und dieses Know how auch nutzen. Das geschieht aber leider häufig nicht und ist aus unserer Erfahrung oft der Grund, woran Transformation und Projekte scheitern.

Was verbirgt sich hinter dem Begriff Valytics?

Dahmen: Es ist die Kombination aus Value und Analytics, also auf der einen Seite Wert schaffen für das Unternehmen, für die Aktionäre, die Kunden. Und auf der anderen Seite über das Thema Analytics eine klare analytische Grundlage entwickeln.

Sie wollen Vertriebe neu denken, anders denken. Wo wollen Sie dort ansetzen?

Dahmen: Vorweg: In der Versicherungswirtschaft glauben wir an den personalen Vertrieb. Allerdings nicht in der heutigen Ausgestaltung, sondern in der engen Interaktion mit digitalen Formaten sämtlicher Couleur. Wir sprechen vom Omnikanal, der konsequenten Vernetzung aller Vertriebskanäle, die konsequente Vernetzung der Vertriebe mit digitalen Plattformen, um nur zwei Beispiel zu nennen. Auch die Nutzung der neuen Technologien wie ChatGPT. Aber immer im Zusammenspiel mit dem personalen Vertrieb, der die Digitalisierung einatmen muss. Ich kenne Vertriebe, die das sehr gut machen. Ich kenne aber auch Vertriebe, wo die Digitalisierung immer noch als Bedrohung und Gegenpol wahrgenommen wird. Es geht darum, digitale Plattformen für die Beratung zu schaffen, die Verzahnung verschiedener Netzwerkpartner.

Sie schreiben auch, dass Sie innovative Produkte entwickeln wollen, in der Lebens- aber auch in der Krankenversicherung. Was können Sie besser beziehungsweise machen Sie innovativer als ein digitaler Versicherer oder eine etablierte Gesellschaft?

Dahmen: Ich habe als Lebensversicherungsvorstand die größten positiven Erfahrungen damit gemacht, wenn Produkte zusammen mit den Vertriebspartnern entwickelt und umgesetzt wurden. So haben wir seinerzeit ein HDI-Leben-Produkt im Schulterschluss mit einem externen Vertrieb entwickelt. Wir haben zudem die Wünsche von Kunden mitberücksichtigt. Wenn man das beherzigt, dann kommt man in der Regel zu besseren und innovativeren Produkten mit starkem Vertriebs- und Kundenbezug. Punkt zwei: ich habe sehr gute Erfahrungen gemacht, wenn Produkte stärker zielgruppenspezifisch entwickelt werden. Bei Axa gab es beispielsweise die Zielgruppe der Ärzte, der Beamten, der Soldaten. Diese zielgruppenspezifischen Ansätze werden im deutschen Markt nicht überall genutzt und insbesondere nicht gesamthaft umgesetzt: sowohl was die Konzeption des Produkts angeht, was die Tarifierung des Produkts angeht, aber auch was die Ansprache der Kunden und Vertriebe betrifft. Und das sind Ansatzpunkte, die wir anbieten. So hat Hans-Joachim Schütt im Bereich der Biometrie fundierte Erfahrungen. Mein Kollege Christoph Sindezingue und ich bringen aus dem Segment der Lebensversicherung, gerade in der Altersvorsorge, umfassendes Know-how und Erfahrungen in der Entwicklung innovativer Produkte mit. Dort wollen wir neue Impulse setzen.

Wenn ich mir die genannten Zielgruppen betrachte, kann ich darauf aufsetzend auch ein Ökosystem aufbauen.

Dahmen: Genau. Die Axa hat um die oben genannten Zielgruppen bereits Ökosysteme aufgebaut. Das habe ich ja seinerzeit erlebt. Es bietet die Basis, verschiedene Partner zusammenzuführen und für die Zielgruppe einen Mehrwert schaffen, der größer ist als die Summe der Einzelkomponenten. Ein gutes Beispiel liefert auch Ping An mit ihren umfassenden Ökosystemen für verschiedene Kundenbedürfnisse auf der Basis einer starken digitalen Plattform.

Haben Sie den Eindruck, dass das Thema Digitalisierung in der Tiefe noch nicht von allen richtig durchdacht ist.

Dahmen: Ich glaube, dass sich jedes Unternehmen seit Jahren damit intensiv beschäftigt. Ich habe das Gefühl, dass im Vertrieb teilweise noch das Gefühl mitschwingt, ob damit ein Gegenentwurf zum personalen Vertrieb gemeint ist. Das Gegenteil ist der Fall: digitale Customer Journeys oder daten-basierte Ansprachen stellen ein Stärkungsprogramm für den personalen Vertrieb dar. Das ist die Ambivalenz und Ambiguität, die mitschwingt und Ängste auslöst.

Sie waren Vorstand bei Axa, Vorstand bei HDI. Diese Unternehmen haben die Herausforderungen erkannt und auch durchdacht. Wo und wie wollen Sie diesen Unternehmen als Valytics überhaupt noch helfen?

Dahmen: Nach einer Erhebung des GDV werden rund 16 Prozent aller Policen im Neugeschäft voll digital abgeschlossen. 80 Prozent aller Dokumente, die Versicherungen erreichen, sind unstrukturiert und müssen manuell verarbeitet werden. Das bedeutet, wir haben schon noch Basisarbeiten zu leisten, generell eine digitale Plattform zu schaffen, sodass die gesamte Verarbeitung des Geschäftes digital erfolgt. Und da sind wir noch längst nicht am Ende. Der zweite Punkt ist: die Auswirkungen neuer Technologien auf unser Geschäftsmodell sind enorm – was bedeutenChatGPT oder Metaverse für unser Geschäftsmodell? Die Möglichkeiten der Interaktion im Vertrieb durch ein Zusammenspiel der realen und virtuellen Welt verbessern sich und welche Vertriebsansätze ergeben sich dann? Welche datenanalytischen Themen ergeben sich aus der generativen künstlichen Intelligenz (Large Language Models)?

Wo kann ich Daten zusammenführen, um Mehrwerte für den Kunden zu schaffen in Form von Ökosystemen? Das sind alles Themen, wo es Ansätze gibt. Wir hatten vor kurzem die InsureNXT und ich bin ja auch Vorstandsvorsitzender des InsurLab Germany – dort haben wir uns mit Jonathan Larsen, Chief Innovation Officer von Ping An, ausgetauscht. Wenn Sie sich anschauen, was der chinesische Versicherer in diesen Themen macht: Ping An hat einen starken Agenturvertrieb, der aber digital so aufgerüstet ist – das haben wir in Deutschland noch nicht gesehen. Das sind die Ansätze. Immer verbunden mit dem Anspruch, den personalen Vertrieb zu stärken – das ist der Kerngedanke. Hinzu kommen die Geschäftsopportunitäten für Versicherung in der Kollaboration mit digitalen Plattformen – sei es als eigenständiges Produkte oder im Rahmen von embedded insurance Ansätzen.. Es geht immer darum, mehr Interaktion mit dem Kunden zu schaffen – also das Customer Engagement in einer Branche zu erhöhen, in der die Kundeninteraktion und Kundenfrequenz typischerweise recht niedrig ist.

Wie viel weiter ist Ping An denn?

Dahmen: Deutlich weiter. Aber es gibt mindestens zwei Gründe, warum das so ist: Erstens hat der chinesische Versicherungsmarkt einen ganz anderen Reifegrad als der deutsche. So ist beispielsweise das chinesische Gesundheitssystem – gerade auf dem Land – ganz anders entwickelt als hierzulande. Das sorgt dementsprechend für digitale Angebote, weil der „Schmerzpunkt“ dort ein ganz anderer ist. Zweitens kommt das Thema Datenschutz und Regulatorik hinzu, die Standards sind dort einfach ganz andere. Auf der anderen Seite gibt es aber auch hierzulande sehr positive Beispiele: Die HUK-Coburg mit ihrer Autowelt oder der Entwicklung einer Plattform namens onpier für versicherungsfernere Leistungen. Der Versicherer ist dabei, ein Ökosystem aufzubauen, das zumindest an die Ausgestaltung, wie man es von Ping An kennt, anknüpft.

Sie sprachen vorhin die Einsatzmöglichkeiten von ChatGPT an. Die KI wird aber auch Arbeitskräfte freisetzen. Wo sehen Sie die Vorteile der AI für den personalisierten Vertrieb?

Dahmen: Erstens sehe ich es in der Verwaltung als Teil, um den gesamten Backoffice-Prozess zu vereinfachen. So kann KI Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern Handlungsempfehlungen geben. Ich sehe es aber auch im gesamten Schadenmanagement. Generell sehe ich im Bereich Voice-to-text oder Image-to-text deutliche Optimierungsthemen. Aber natürlich auch im Bereich des Vertriebs. Also überall dort, wo es um die Interaktion mit Kunden geht. Sie als Kunde rufen im Call-Center an und ChatGPT macht aufgrund ihrer Versicherungshistorie dem Call-Center-Agent Vorschläge, wie er oder sie am besten antwortet. Ich sehe es als Vertriebsunterstützung für den Vertriebsmitarbeiter, der Empfehlungen für Kundenkontaktanlässe beziehungsweise Nachfassaktionen erhält.

Es geht also im weiteren Sinne um Vertriebsimpulse. Das sind nur einige Beispiele. Natürlich gibt es auch eine große Herausforderung. Nicht zuletzt beim Thema Datenschutz. In einigen Ländern in Europa ist der Einsatz der KI im Bereich der Finanzdienstleistungen verboten, weil man nicht genau weiß, was mit den Daten passiert, die in diesen Algorithmus gegeben werden. Aber eines ist klar: die Technologie generativer AI-Lösungen, beispielsweise Large Language-Modells, wird die gesamte Wertschöpfungskette revolutionieren. Von Effizienzthemen, über Kundeninteraktion bis hin zum underwriting.

Sie sind ja auch – Sie deuteten es vorhin an – Vorstandsvorsitzender des InsurLab Germany. Wie viele Erkenntnisse aus der Tätigkeit sind bei Valytics mit eingeflossen?

Dahmen: Ehrlich gesagt, eine ganze Menge. Wir arbeiten als InsurLab Germany mit vielen Insurtechs zusammen. Zudem berate ich außerhalb von Valytics sowohl Wagnis-Kapital-Fonds als auch Start-ups. Deren Art zu arbeiten, im Team crossfunktional zusammen zu sein, schnell zu pilotieren, aber auch zu schauen und wenn nötig, die Richtung schnell anzupassen – diese Art des Arbeitens kann man übernehmen. Aber es gilt, auch sich die Frage zu stellen, wie solche Start-Ups den etablierten Versicherern konkret helfen können. Das kleine Start-ups große Versicherer übernehmen oder zur Seite drängen, wird eher die Ausnahme bleiben. Von dem Gedanken haben wir uns längst verabschiedet. Wir sind jetzt in der Phase der Kollaboration.

Bestimmte start-ups oder auch scale-ups können im Bereich der Vertriebskanal-Schnittstelle – nehmen wir beispielsweise die bAV-Plattform Xempus – bessere Lösungen liefern. Oder nehmen wir Cybersecurity. Dort werden Plattformen aufgebaut, die die digitale Verwundbarkeit eines Unternehmens durch Cyberattacken analysieren und entsprechend dann die nötigen Produkte und Versicherungslösungen vorschlagen. Diese Arten der Kollaboration fördern wir beim InsurLab Germany sehr stark. Und diese Erfahrungen fließen auch in die Arbeit bei Valytics ein.

Wer gehört zum Valytics-Kundenkreis?

Dahmen: Bei Valytics liegt der Fokus auf Versicherungen und Vertriebsgesellschaften in der DACH Region bzw. auf ausländischen Versicherern mit Interesse an der DACH Region. Daneben bin ich auch als Berater von Startups aktiv. Insofern will ich nicht ausschließen, dass wir zukünftig nicht auch mit Valytics in dem Bereich unterwegs sind. Im Kern sind wir aber auf die etablierten Versicherer und Vertriebe fokussiert.

Welche Perspektiven, welche Erwartungen haben Sie als Mitbegründer?

Dahmen: Unser erstes Ziel ist es, uns klar am Markt zu etablieren. Und als ernsthafte Ergänzung zu den etablierten Beratungsgesellschaften wahrgenommen werden. Das ist die Basis: Starten, erste Erfolge einfahren und am Markt wahrgenommen werden.

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